Unter dem Eis
Großteil ihrer Zeugen vermutlich in die Sommerferien nach Gott weiß wohin verreisen. Und währenddessen ist vielleicht irgendwo ein Junge in Gefahr. Wenn er nicht schon tot ist.
Plötzlich ist Mannis alter Ehrgeiz wieder da, diese eiserne Entschlossenheit, nicht lockerzulassen, bis er das bekommen hat, was er will. Er wird diesen Fall klären, er wird sich rehabilitieren, er wird diesen Jungen retten, falls er denn noch zu retten ist. Manni sieht Stadler in die Augen. Du lügst, denkt er, zumindest weißt du etwas, was du mir nicht sagen willst. Vielleicht bist du sogar ein Mörder. Wie auch immer, am Ende werde ich dich kriegen.
»Die Hunde …«, sagt Stadler und starrt Richtung Wald. »Dieses Bellen. Haben Ihre Kollegen etwas gefunden?«
»Wir werden erfahren, wenn es etwas Wichtiges ist«, sagt Manni. »Zeigen Sie uns jetzt, wo Jonny war, als Sie ihn das letzte Mal gesehen haben.«
Frank Stadler deutet auf die kegelförmigen Tipis, die so aussehen, als könnten jede Sekunde ein paar waschechte Rothäute ihre Nasen herausstrecken.
»Hier in dem mittleren Zelt sollte Jonny schlafen«, sagt Stadler. »Sein Rucksack lag da Sonntagmorgen auch noch drin.«
»Und hier haben Sie ihn zuletzt gesehen? Wann genau war das und was hat Ihr Stiefsohn da gemacht?«
Stadler scheint nachzudenken, und als er endlich antwortet, ist seine Stimme heiser. Er sieht Manni nicht an.
»Wir teilen uns immer auf, in Cowboys und Indianer. Jonny ist Indianer, und die Indianer haben am Samstagnachmittag hier am Seeufer beisammengesessen, um ihr nächtliches Geheimtreffen vorzubereiten. Glauben Sie mir, ich mache mir ja selbst Vorwürfe deswegen, aber ich kann einfach nicht mit Sicherheit sagen, ob Jonny wirklich dabei war. Ich glaube, dass ich ihn am Nachmittag hier gesehen habe, aber hundertprozentig sicher bin ich nicht.«
»Aber jemand muss doch bemerkt haben, ob Jonny von Samstag auf Sonntag in dem Zelt geschlafen hat oder nicht.«
»Das habe ich die Kinder, die in seinem Zelt übernachtet haben, natürlich auch gefragt. Sie haben gesagt, sie glauben, er war nicht da, als sie ins Bett gingen, und er war sicher nicht da, als sie aufstanden. Aber das muss doch nicht heißen, dass er nicht nach ihnen in seinen Schlafsack gekrochen sein kann und vor ihnen wieder aufgestanden ist?«
»War sein Schlafsack denn benutzt?«
Stumm schüttelt Stadler den Kopf.
Es ist zu früh für Besuch, sie hat noch nicht einmal geduscht. Aber Berthold Prätorius scheint das nicht zu bemerken. Mehr denn je wirkt er wie ein verkleidetes Schalentier. Unstet huschen seine Hummeraugen durch Judiths Küche, bevor sie sich an ihrem Gesicht festsaugen.
»Mit dem Computer bin ich fertig.«
»So schnell? Gestern Abend ließ er sich nicht mal hochfahren.«
»Der Fehler war leicht zu finden.«
»Und?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Kein Hirn. Jemand hat die Festplatte ausgebaut.«
»Vielleicht war die Festplatte defekt.« Sie will duschen und frühstücken, bevor sie sich erneut in die Vergangenheit undin ein fremdes Leben stürzt. Sie will jetzt nicht mit Berthold diskutieren.
Aber ihr Schulkamerad ist hartnäckig. »Wenn ihr Computer kaputt wäre, hätte Charlotte mich angerufen. Okay, ich war im Mai zwei Wochen verreist und dann war viel los in der Firma. Trotzdem, sie hätte mich angerufen. Das passt alles nicht zu ihr. Da stimmt etwas nicht.«
In der Nacht hat Judith von dem merkwürdigen schwarzweißen Wasservogel geträumt. Er schwamm auf einem See und fixierte sie mit seinen Feueraugen, als hätte er eine Botschaft für sie. Judith hatte überlegt, was er ihr sagen wollte, ohne eine Antwort zu finden, und schließlich hatte sie das hingenommen und den Vogel einfach immer weiter angesehen, wie man das im Traum eben tut.
»Charlotte steckt in Schwierigkeiten«, sagt Berthold. »Du musst ihr helfen.«
Warum ist Berthold so verdammt besorgt? Wirklich nur aus Freundschaft? Judith sieht ihm in die wasserhellen Augen.
»Mit wem außer mit dir war Charlotte eigentlich befreundet?«
»Sie hat immer große Stücke auf dich gehalten, Judith.«
»Sehr witzig. Wir haben uns seit über 20 Jahren nicht gesehen.«
»Nein, wirklich, sie hat immer mal wieder von dir gesprochen. Sie mag dich.«
»Dafür gibt es keinen Grund.« Wieder glaubt Judith diese wattige Unwirklichkeit aus Charlottes Villa zu spüren. Sie hat das Gefühl, in etwas festzustecken, was sie doch nicht verstehen kann. Als hätte sie ein kompliziertes Verhör geführt und stundenlang um
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