Unter dem Eis
Worte gerungen, die über Schuld und Unschuld Auskunft geben sollen und dies doch in den seltensten Fällen tun.
Charlotte ist nicht greifbar, denkt Judith, das ist es, was mich so irritiert. Sie ist so spurlos verschwunden, als habe sie gar nicht richtig gelebt. Ihr Haus mit seinem Geruch nach Desinfektionsmittel und Verlassenheit ist wie ein Kokon, den ein Insekt zurückgelassen hat, oder die abgestreifte Haut einer Schlange. Man hält diese Überreste in der Hand, legt sie womöglich unter ein Mikroskop – aber sie bleiben doch leere Hüllen, und sosehr man sie auch dreht und wendet, über das Leben, das aus ihnen geschlüpft ist, verraten sie nichts.
»Ich will jetzt duschen und frühstücken, Berthold. Und dann schaue ich, was ich über dieses Eistaucher-Bild herausfinden kann. Vielleicht kommen wir damit weiter.«
Er nickt zögernd und streckt ihr die Hand entgegen. Sie drückt sie kurz und bringt ihn zur Tür.
»Bitte, Judith«, sagt Berthold zum Abschied. »Charlotte ist in Gefahr.«
Als endlich die Schulglocke zur großen Pause klingelt, stopft Tim sein Portemonnaie in die Hosentasche und rennt aus dem Klassenraum, bevor ihm einer seiner lieben Mitschüler oder die Dolling den Weg versperren können. Tim weiß genau, wo er Jonny treffen kann, denn er kennt seinen Stundenplan auswendig, auch wenn er das niemals jemandem verraten würde, nicht einmal Jonny. Der Gedanke, dass sein Freund sich womöglich hintergangen fühlen könnte, wenn er wüsste, was Tim alles über ihn weiß, ist unangenehm, er drängt ihn schnell beiseite. Wichtig ist vor allem, dass er Jonny findet. Tim springt die Treppen hinunter und hastet über den hinteren Plattenhof zu den Laboren. Montagmorgens hat Jonny Chemie. Die ersten Schüler aus seiner Klasse schlurfen gerade nach draußen und blinzeln träge in die Sonne. Tim presst sich an die schattige Wand gegenüber dem Laborgebäude und lässt die Tür nicht aus den Augen. Er weiß, dass es nur diesen Ausgang gibt und dass Jonnys Klasse 9 d als Nächstes Deutsch hat. Jonny muss also dort herauskommen.
Es ist heiß. Ein perfekter Hochsommertag. Vielleicht gibt es nachher hitzefrei und dann können sie schon am frühen Nachmittag mit Dr. D. zum Baggersee fahren. Der Dackel sieht so lustig aus, wenn er mit seinen krummen Pfoten durchs Wasser paddelt und vor Begeisterung fiept. Wie eine knopfäugige Bisamratte. Bevor er mit Jonny befreundet war, ist Tim nicht gern schwimmen gegangen, obwohl er Wasser liebt. Aberins Schwimmbad wollte er nicht, wegen der anderen Kinder, und allein hat er sich nicht zum Baggersee getraut. Doch mit Jonny zusammen ist das etwas anderes. Letzten Freitag haben sie eine Luftmatratze zur Tauchbasis gemacht. Dr. D. war der Kapitän, und dann sind sie immer abwechselnd so tief und so lange wie möglich getaucht, was aufregend war, auch wenn sie in dem grünen, algigen Wasser durch ihre Taucherbrillen kaum etwas erkennen konnten.
Solange er denken kann, ist Tim schon von der Welt unter Wasser fasziniert. Er sammelt Muscheln, die er in kleinen Kartons in seinem Bettkasten katalogisiert. Er spart jeden Cent, den er erübrigen kann, damit er, sobald er sechzehn ist, einen Tauchkurs machen kann. Er verschlingt jedes Buch über das Meer, das er finden kann, er kennt alle interessanten Tauch- und Meersites im Internet. Er hat eine Dauerkarte für das Aquarium des Kölner Zoos. Und oft stellt er sich vor, ein Fisch zu sein. Ein Igelfisch zum Beispiel, ein Cyclichthys antennatus, der im Ozean vor den Antillen lebt. Der Igelfisch ist eigentlich klein und braun mit schwarzen Tüpfeln, unscheinbar. Aber wenn er sich verteidigen muss, schluckt er so viel Wasser, dass er aussieht wie ein aufgeblähtes Nadelkissen, mit unzähligen stacheligen Spitzen. Keine leichte Beute.
Jetzt erscheint seine Cousine Ivonne mit ihrem Freund Viktor in der Tür zum Labor. Ihr blondes Haar glänzt in der Sonne, ihr albernes Top ist denkbar knapp, die Ohrstöpsel ihres MP3-Players baumeln auf ihren Brüsten, mit einem schnellen Blick prüft sie, wer auf dem Schulhof ist, und schafft es dabei wieder einmal, durch Tim hindurchzusehen.
»Na los, ihr zwei, schlagt hier keine Wurzeln, ich will abschließen.« Der Chemielehrer Mohr tritt hinter Ivonne und Viktor, und provozierend langsam setzen sie sich in Bewegung, eng umschlungen und unglaublich wichtig, das coolste Liebespaar der Bertolt-Brecht-Schule.
Letztes Jahr, als Tim und Jonny sich gerade anfreundeten, hatte Tim eine Zeit lang Angst,
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