Unter dem Eis
sehr viel schneller arbeiten als ein menschlicher Suchtrupp.
»Bis zur A4 sind’s von hier aus an der schmälsten Stelle etwa zwei Kilometer«, Manni tippt mit dem Zeigefinger auf einen Autobahnrastplatz. Sie haben sich darauf geeinigt, zuerst das Gebiet zwischen Camp und Autobahn abzusuchen. Vielleicht ist der Junge ja zu einem Parkplatz gelaufen und weggetrampt. Oder er hatte sich dort mit jemandem verabredet. Und wenn eine dieser beiden Varianten stimmt und Jonny Glück hatte, hockt er mit seinem Köter jetzt irgendwo quietschfidel in der Sommerfrische und lacht sich ins Fäustchen. Aber aus irgendeinem Grund glaubt Manni das nicht. Vielleicht liegt es an der konzentrierten Betriebsamkeit, die zehn belgische Schäferhunde und ihre Führer verströmen. Vielleicht liegt es an Frank Stadlers Herumgedruckse. Zwei Kollegen von der Streife haben Stadler vorhin heimgefahren, weil er hier vor Ort nur im Weg war. Petra Bruckner hat ihn begleitet. Sie wird sich von den Stadlers eine Liste von Jonnys Freunden geben lassen und das Mitgliederverzeichnis vom Indianerclub Kölsche Sioux. Jetzt ist sie sicher schon in Jonnys Schule, dort, wo auch Manni sein sollte, denn vielleicht hat ja einer der Mitschüler etwas zu sagen. Besser, die Entscheidung darüber, was ihnen weiterhelfen kann, nicht der Bruckner allein zu überlassen.
Manni faltet seine Karte zusammen, die Hundestaffel hat ihr eigenes Material. »Wie lange braucht ihr bis zur Autobahn, Kurt?«
»Schwer zu sagen – kann bis morgen dauern, auf ganzer Breite sogar länger. Es sei denn, das Gelände lichtet sich.«
»Ich fahr jetzt in die Schule. Wenn ihr was findet, ruft mich sofort an.«
Kurt nickt ihm zu, und Manni unterdrückt einen Fluch, als er die Autotür öffnet. Die reinste Sauna. Warum hat er nicht dran gedacht, die Fenster runterzukurbeln? Sein Handy beginnt zu vibrieren, er meldet sich, ohne aufs Display zu sehen.
»Er raucht wieder, dein Vater«, klagt die Stimme seiner Mutter. »Und das bei diesem Wetter.«
»Ich kann jetzt nicht.«
»Kannst du nicht mit ihm reden?«
»Du weißt doch, dass er auf mich nicht hört. Tut mir leid, Ma, ich kann jetzt wirklich nicht.«
Manni wirft sich ein Fisherman’s in den Mund, wendet den Wagen und gibt Gas. Irgendetwas sagt ihm, dass dieser Tag noch verdammt lang und verdammt unerfreulich werden wird.
Das schmale Ladenlokal in der Maria-Hilf-Straße liegt nur wenige hundert Meter von Judiths Wohnung entfernt in einer unscheinbaren Einfahrt. »ART 4 U – WIR MALEN, WAS DU WILLST«, steht über dem Schaufenster, in dem neben einer dösigen schwarzweißen Katze mit sehr gelben Augen Farbpaletten und Pinsel liegen. Der Laden erscheint leer, aber die Tür zur Straße steht weit offen und aus einem Ghettoblaster tönt Reggaemusik. Es riecht nach Terpentin, Ölfarben und einem Hauch Cannabis. Judith lässt die Katze zur Begrüßung an ihrer Hand schnuppern. Nach dem Frühstück hat sie aus alter Gewohnheit einen Bericht über das verfasst, was sie von Charlotte weiß. Sie hat versucht, Bertholds Sorgen und ihre eigenen Ahnungen dabei beiseite zu schieben, obwohl sie aus Erfahrung weiß, dass Letztere beharrlich sind. Die Fakten sind mager. Ihr bester Hinweis ist tatsächlich der schwarzweiße Vogel.
Ein schillernd türkisgrüner Vorhang hinter einer Staffelei bewegt sich, und ein junger Mann mit hellblonden Dreadlocks schaut hervor.
»Bin gleich da. Mach’s dir derweil bequem.« Er deutet auf einen runden roten Metalltisch und ein paar Klappstühle und verschwindet wieder. Judith betrachtet das bunte Sammelsurium von Bildern an der Wand. Tierporträts, abstrakte geometrische Figuren, eine Berglandschaft, der Kölner Dom – ganz offensichtlich nimmt der Ladeninhaber sein Geschäftsmottoernst. Sie lehnt Charlottes Eistaucher-Gemälde an die Wand und setzt sich auf einen der Stühle. Etwas ist vorbei, denkt sie. Es ist gut, wieder zu ermitteln. Es ist gut, unterwegs zu sein. Die Musik pausiert für ein paar Sekunden, dann fließen aus dem Ghettoblaster erneut tranceartige jamaikanische Rhythmen, wie in einem exotischen Land, dessen erste Lektion für Fremde darin besteht, die Zeit zu vergessen.
»Hi, ich bin Piet«, der Rastalockige stellt ein Tablett auf den Tisch und streckt ihr seine silberberingte Hand entgegen. »Tee?« Ohne Judiths Antwort abzuwarten, füllt er Flüssigkeit in zwei Gläser mit Goldrand und schiebt eines zu ihr hin. »Grüntee mit frischer Minze, das absolut Beste bei dieser Affenhitze,
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