Unter dem Eis
heißt. Die Ordner, in denen sich laut Beschriftung Charlottes Studienunterlagen befanden, sind leer. Immerhin gibt es ein Telefonverzeichnis der Universität. Judith vereinbart einen Termin mit einem Professor Wolfram, der einmal Charlottes Doktorvater war. Nur widerwillig stimmt er zu, sie noch am selben Tag zu empfangen. Zum ersten Mal seit langem vermisst sie ihren Dienstausweis.
Auf dem Weg zur Universität kauft sie Mineralwasser und macht einen Abstecher zum Melatenfriedhof. In einer der Friedhofsgärtnereien kauft sie einen Strauß Löwenmäulchen. Die Blumen haben etwas Hoffnungsvolles, auch wenn sie bereits die Köpfe hängen lassen, als Judith die inzwischen so vertraute Grabstätte erreicht und sie in einer Vase arrangiert. Judith dreht sich eine Zigarette. Sie ist oft hierher gekommen im letzten halben Jahr. Sie denkt an ihren Exfreund Martin,der jetzt in einem Krankenhaus in Erfurt arbeitet. Er ist so höflich gewesen, sie zu fragen, ob sie mitkommen wolle, obwohl sie beide wussten, dass das nie und nimmer funktionieren würde. Martin mit seinen scharfen Pastasaucen und der unerschütterlichen Anteilnahme. Er hat immer gesagt, sie müsse Patricks Grab besuchen, und als sie es endlich tat, war es zwar für sie und Martin zu spät, aber die Stunden auf dem Friedhof gaben ihr aus irgendeinem Grund Kraft. Und jetzt hat sich wieder etwas geändert, sie kann das fühlen, auch wenn sie es noch nicht benennen kann. Sie tritt ihre Zigarette aus und hebt die Kippe auf. Der Steinengel neben der Birke lächelt ihr zu, Abschied im Blick.
Auf den Uniwiesen halten Trauben träger Studenten die Gesichter in die Sonne, die Campusatmosphäre erinnert an die Glück-durch-Bildung-ist-ganz-leicht verheißenden Werbebilder amerikanischer Eliteuniversitäten, die deutsche Politiker neuerdings zum Vorbild erkoren haben. Doch im Inneren der Alma Mater sind die Hörsäle so hoffnungslos überfüllt und schäbig wie zu der Zeit, als Judith hier ihr Juraexamen ablegte, und auch die Professoren haben ihre Strategie, den Studentenmassen zu begegnen, nicht verändert: Sie schotten sich ab. Auch wenn die grauhaarige Vorzimmerdame sie anstandslos ins Heiligtum von Charlottes Doktorvater führt, hat Judith das ungute Gefühl, dass die Suche nach Charlotte zäh bleiben wird.
»Charlotte Simonis, ein trauriger Fall.« Professor Hans-Hinrich Wolfram, Inhaber des Lehrstuhls für Zoologie der Universität zu Köln, winkt Judith auf einen Holzstuhl vor seinem überladenen Schreibtisch und stochert ungeduldig in seiner Meerschaumpfeife. Er ist ein dürres Männlein um die 50 mit intelligenten Augen, schütterem rötlichem Haar und Ziegenbärtchen.
»Wieso traurig?«, fragt Judith.
»Eine begabte Wissenschaftlerin, keine Frage, und dann wirft sie ihre Karrierechancen einfach weg.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wissen Sie, wie viele Studenten hier promovieren dürfen und das finanziert bekommen?«
»Sehr wenige, vermute ich.«
Der Professor nickt, als sei sie ein Prüfling, der gerade bei einer Testfrage gepunktet hat. »Aber Charlotte Simonis kommt vom einen Tag zum anderen nicht mehr. Mitten im Semester.«
»Warum?«
Wolfram bearbeitet seine Pfeife. »Ich habe das ehrlich gesagt nie verstanden.«
»Aber sie muss doch einen Grund genannt haben.«
»Ihre Mutter bekam Krebs.« Ein paar Spucketröpfchen landen auf einem der Papierstapel, die den Schreibtisch des Professors bedecken.
»Sie haben ihr nicht geglaubt?«
»Die Mutter hatte Krebs. Ist das ein Grund, alles aufzugeben?« Er macht eine Geste zu den staubigen Blechregalen, die sich unter der Last wissenschaftlicher Schinken und Facharbeiten biegen. »Auch ihr Vater war entsetzt.«
»Wilhelm Simonis.«
»Ein Genetiker der ersten Stunde, begnadet.«
»Sie kannten ihn persönlich?«
»Ein hochgeschätzter Kollege.«
»Vielleicht hat er von seiner Tochter verlangt, dass sie die Mutter pflegt.«
»Ich sagte doch: Er war entsetzt.«
Vielleicht hat er dich angelogen, denkt Judith. Vielleicht hast du das gar nicht gemerkt, weil du nicht wahrhaben wolltest, dass deine fleißige Hilfskraft nicht der Wissenschaft, sondern dem Willen ihres Vaters diente. Doch selbst wenn es so war, was sagt das über Charlottes Verschwinden? Für den Bruchteil einer Sekunde sieht Judith die jugendliche Charlotte vor sich, wie sie sich an den schmuddeligen Wänden der Schulkorridore entlangduckte, als suche sie Deckung vor Scharfschützen, sieht sich selbst als Schülerin, die versucht, das zu
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