Unter dem Eis
Riechzellen, wir Menschen haben gerade mal fünf Milllionen.«
»Vielleicht war es ein erschöpfter Jogger?«
»Den würde Arco anders melden. So reagiert er nur, wenn er Panik riecht. Todesangst.«
»Also möglicherweise unser Junge in Gefahr.«
»Ja.«
»Aber nicht sicher.«
»Ganz genau können die Hunde das leider nicht sagen.«
Ein Mensch in panischer Angst, denkt Manni. Gehen wir mal davon aus, dass es so war. Dass es Jonny Röbel war, der hier in dieser Hütte saß. Warum hatte er Angst? Was ist ihm hier widerfahren? Hat er um Hilfe gerufen? Hat ihn jemand gehört? Und was ist mit seinem Hund? Manni geht in die Hocke und versucht, unter der Eckbank etwas zu erkennen. Laub, Kaugummipapiere, eine Getränkeverpackung, ein halb verfaulter Apfel. Kein Junge, kein Hund. Kein Blut, soweit er das beurteilen kann. Manni steht wieder auf, verlässt die Hütte, nimmt sein Handy.
»Wir brauchen die Spurensicherung. Und bitte die Hütte ab sofort nicht mehr betreten.«
»Deshalb haben wir ja draußen auf dich gewartet.«
»Okay, dann los. Tun wir so, als sei diese Schutzhütte ein Tatort. Konzentriert euch auf die Umgebung. Wenn es hier irgendetwas gibt, was auf den Jungen oder seinen Hund hinweist oder auf ein Verbrechen, dann will ich es wissen. Am besten ordern wir auch die anderen Hunde hierher.«
Manni wählt die Nummer der Spurensicherung, setzt sie ins Bild, breitet seine Landkarte auf dem Holzstapel aus und beschreibt einen direkten Zufahrtsweg. Für den Moment ist die Nachmittagshitze, die zwischen den Bäumen brütet, vergessen, auch die Hundestaffel arbeitet mit neuem Elan. Werden sie etwas finden? Wird Manni schon bald die Ermittlungen an die Mordkommission abgeben müssen? Noch bevor er sich in erneute Grübeleien über die Willkür seiner Vorgesetzten vertiefen kann, hört er einen der Männer rufen – Kurt. Er kniet im Unterholz und hält seine Nancy am Halsband. Nicht allzu weit entfernt von der Schutzhütte. Manni sprintet zu ihm. Vor der Hündin liegt etwas im Laub. Klein, pelzig, unauffällig. Es stinkt nach Verwesung.
»Erst dachte ich, es sei nichts. Nur ein totes Eichhörnchen oder eine fette Maus«, sagt Kurt. »Ist es aber nicht.«
Manni nimmt einen Stock und dreht das pelzige Ding herum. Aasfresser haben ganz offensichtlich schon ihre Freude dran gehabt. Der Gestank wird stärker. Die Unterseite des pelzigen Dings ist weniger behaart. Manni beugt sich näher heran und spürt, wie sich das Snickers in seinem Magen verklumpt. Das Ding hat weder Kopf noch Arme oder Beine. Etwas schimmert bläulich. Vielleicht Ziffern.
»Tätowierung«, konstatiert Kurt sachlich. »Das Blaue da, meine ich. Könnte die Registriernummer eines Hundes sein.«
Manni nickt. »Hast Recht. Könnte ein Hundeohr sein.«
»Eine Maus ist es jedenfalls nicht. Rauhaardackel, sagtest du? Größe und Farbe kommen hin.«
»Aber mehr hat Nancy nicht gefunden? Nur dieses – Ohr?«
Kurt schüttelt den Kopf. »Bis jetzt nichts. Fehlanzeige.«
Er muss erfahren, ob Jonnys Dackel eine Tätowierung im Ohr hatte, und wenn dem so ist, muss er dieses stinkende, angefressene, pelzige Ding zu Karl-Heinz Müller in die Rechtsmedizin bringen und ihn bitten, einen DNA-Abgleich mit ein paar Haaren aus Dr. D.s Hundekörbchen zu machen. Manni denkt an Martina Stadler, die Angst in ihren Augen. KönnenSie sich vorstellen, wer dem Dackel Ihres Jungen ein Ohr abschneiden würde? Ganz und gar unmöglich, diese Frage zu stellen, bevor nicht hundertprozentig feststeht, dass dieses Ding tatsächlich ein Körperteil von Jonnys Hund ist.
»Die Spurensicherer müssen gleich da sein.« Manni richtet sich auf und sieht zu der Schutzhütte hinüber. Was verdammt noch mal ist hier passiert? Wer foltert einen Rauhaardackel? Oder war er schon tot, als man sein Ohr abtrennte? Man kann es nur hoffen, denkt Manni, man kann es nur hoffen. Aber eigentlich ist es egal, denn auf jeden Fall dürfte der Akt der Verstümmelung genügen, einen vierzehnjährigen Jungen, der seinen Dackel über alles liebt, in abgrundtiefe Panik und Verzweiflung zu versetzen.
Wieder droht Charlottes Villa Judith mit dieser dumpfen Starre zu lähmen. Gavia immer, Eistaucher, Hauptverbreitungsgebiet Kanada und Nordamerika, steht in einem Vogelkunde-lexikon. Im Arbeitszimmer gibt es zwei englische Fachbücher zu diesem Thema, einen Ordner mit wissenschaftlichen Aufsätzen, aber nichts Persönliches von Charlotte, ihrem Vater oder gar einem Mann, der mit Vornamen Terence
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