Unter dem Eis
morgen früh muss die Hundestaffel hier alles absuchen. Und jetzt ist es gerade noch lange genug hell, dass Manni ausprobieren kann, wie lange man von diesem Rastplatz bis zu der Schutzhütte braucht.
»Es wäre wirklich toll, wenn du dieses Ohr, oder was immer es ist, irgendwie zwischenschieben könntest. Wenn du die Tätowierung entziffern kannst, brauchen wir keinen DNA-Test«, sagt er ins Telefon.
»Was wir im Rahmen einer rechtsmedizinischen Untersuchung brauchen, entscheide immer noch ich.«
»Natürlich. Ich wollte nur …«
»Ich melde mich.« Mit einem Grunzen, das sich mit viel gutem Willen als »Tschö« interpretieren lässt, beendet Karl-Heinz Müller das Gespräch.
Das Gestrüpp, gegen das der Golffahrer uriniert hat, ist krüppelig und verdorrt. Dahinter führt ein Trampelpfad parallel zwischen Waldrand und Wiese einmal um den Rastplatz herum, gut getarnt durch weitere Büsche – in der Tat ein Paradies für Spanner. Aber es ist niemand zu sehen, dafür deuten eingetrocknete Kothaufen, Papiertaschentücher und ein verschrumpeltes Kondom darauf hin, dass der Golffahrer nicht der Einzige ist, der das Klohaus verschmäht. Was ist so toll dran, sein Geschäft im Wald zu verrichten? Und wer will neben einem Scheißhaufen vögeln? Sorgfältig prüfend, wohin er tritt, wandert Manni einmal am Parkplatz entlang. Nichts zu sehen, was auf Jonny oder seinen Dackel hinweist.
Im Wald wird es schon dämmrig. Manni findet einen Pfad, der ungefähr in die Richtung der Schutzhütte führt, schaut auf die Uhr und trabt los. Etwas sticht ihn in die Stirn. Dann in den Arm. Scheißmücken, auch das noch. Schweiß kriecht in juckenden Rinnsalen unter seinem Haar in den Nacken.Im letzten halben Jahr hat er seine Haare bis auf Kragenlänge wachsen lassen, weil die Frauen darauf stehen. Aber vielleicht war dieses modische Zugeständnis doch keine so gute Idee, zumindest im Sommer. Und wahrscheinlich ist es vollkommen bekloppt, was er hier tut. Bloß weil er eine vage Vermutung hat, verzichtet er auf seinen Feierabend, dabei könnte er längst duschen, die Klamotten wechseln und noch auf ein Weizenbier um die Ecke ins Maybach gehen, wo vielleicht Miss Cateye sitzt. Und mit etwas Glück steht sie auf seine Frisur. Wann hat er das letzte Mal Sex gehabt? Lange her. Viel zu lange her. Irgendwie hat es sich nicht ergeben. Irgendwas ist schiefgelaufen in letzter Zeit.
Er erreicht einen Wanderweg und checkt seine Landkarte, wendet sich nach rechts. Nicht mehr weit bis zur Schutzhütte. Insgesamt etwa 20 Minuten. Sein Handy beginnt erneut zu fiepen, durchbricht die Stille, die ihn umgibt.
»Dein Vater!«, schreit die Stimme seiner Mutter. »Er liegt im Krankenhaus. Du musst sofort kommen, Manfred. Er stirbt!«
Das Gesicht ihres Vaters lächelt sie an. Ihr leiblicher Vater, nicht der Mann, den sie Vater nennt, dessen Namen sie trägt, der ihre Mutter heiratete, als sie vier war, und der mit seiner rasanten Bankkarriere Judiths Kindheit im Rückblick wie einen einzigen Umzug erscheinen lässt. Eingewöhnen, Abschied nehmen, neu anfangen. Der Mann auf dem Schwarzweißfoto in dem schlichten dunklen Holzrahmen, das sie vor ein paar Monaten über dem Küchentisch an die Wand gehängt hat, weiß von diesen Umzügen nichts. Er ist 1969 gestorben, erfroren in den Bergen bei Kathmandu, wo er mit zwei Freunden, ehemalige Jurastudenten wie er, Erleuchtung suchte. Judith betrachtet ihn, diesen Mann, an den sie sich nicht erinnern kann. Thomas Engel. Von anderen Fotos weiß sie, dass sie die Augenfarbe von ihm hat, grau mit türkisfarbenem Rand, Locken und Sommersprossen stammen von ihrer Mutter. Wie wäre ihr Leben als Judith Engel verlaufen? Sanfter? Freundlicher?
Auf jeden Fall nicht mit Thomas Engel als Familienvater, denn als er in Nepal starb, waren ihre Eltern schon geschiedene Leute. Die Mutter hatte Sicherheit gewollt und sich geweigert, dem aus dem Ruder laufenden Ehemann mit der kleinen Judith in eine der Berliner Kommunen zu folgen, die er, wie so viele seiner Generation, als Erlösung von erdrückenden Lebensformen empfunden hatte. Er hatte die Welt verbessern wollen, dieser Thomas Engel, und dazu hatte er sie erkunden wollen. Nicht seine Schuld, dass er dabei gestorben ist, denkt Judith, nicht seine Schuld. Und sicherlich kein Grund, sich vor einer Fernreise zu fürchten, auch wenn es meine erste ist.
Es ist beinahe Mitternacht, die Waschmaschine ist fertig, sie trägt die nassen Wäschestücke auf die Dachterrasse,
Weitere Kostenlose Bücher