Unter dem Eis
gesehen oder gehört hat, etwas, was auch heute zum Greifen nah war. Elisabeths Herz flattert. Aber sosehr sie sich auch bemüht, die Erinnerung will sich einfach nicht greifen lassen.
Die Sesselbezüge in der Sitznische auf dem Flur der Intensivstation sind rau, ihre Farbe ist ein schmuddeliges, abgesessenes Rosa. Auf dem Resopaltisch mit dem verrutschten Platzdeckchen steht eine Vase mit Kunstblumen. Einer der billigen Kunstdrucke an der Wand hängt schief. Weit nach Mitternacht hat Manni seine Mutter hier zurückgelassen, alle Überredungsversuche, sie zum Mitkommen zu bewegen, waren umsonst. Jetzt sitzt sie immer noch in dieser Sitzecke. Manni hat den Verdacht, dass sie sich über Nacht nicht vom Fleck bewegt hat. Ihre Hand liegt zwischen seinen Handflächen, ein nacktes, angststarres Tier.
»Sie sagen, ich darf nicht die ganze Zeit bei ihm sein, weil er Ruhe braucht.« Ihre Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern.
»Die Ärzte wissen sicher, was sie tun, sie wollen dir doch nichts Böses, Ma, sie versuchen alles, damit Papa wieder gesund wird.« Papa, wann hat er das zum letzten Mal gesagt? Manni legt die Hand seiner Mutter behutsam wieder zurück in ihren Schoß und gießt Kaffee aus der Porzellankanne in zwei Tassen, legt eines der belegten Brötchen aus der Krankenhaus-Cafeteria auf einen Teller und hält ihn seiner Mutter vor die Nase. »Komm, Ma, Frühstück, du musst bei Kräften bleiben.«
Mit überraschender Kraft schiebt sie seine Hand beiseite. »Iss du nur, Manfred, mir reicht ein Kaffee.«
Er verschlingt das Brötchen, dann auch das zweite und das Schokoladencroissant. In der Cafeteria war er noch überzeugt, dass er nichts herunterbekommt, nur aus Vernunft und für seine Mutter hat er die Brötchen gekauft, jetzt merkt er mit jedem Bissen, wie hungrig er ist. Seine Kaugeräusche klingen obszön auf dem Flur mit seinem gedämpften Licht, den gedämpften Geräuschen, dem gedämpften Leben, er kann es nicht ändern und seine Mutter scheint es nicht zu hören.
»Dein Vater hätte nicht rauchen dürfen«, flüstert sie und rührt in ihrer Kaffeetasse. »Und dann die Hitze. Er war so rot im Gesicht, den ganzen Nachmittag schon, ich habe ihn gewarnt: Du weißt doch, du hattest schon einen Schlaganfall, hab ich ihm gesagt, du sollst nicht rauchen, sagt Dr. Hartmann; aber auf mich hat er ja nicht gehört, du hättest mit ihm reden sollen, Manfred.«
Der Kaffee ist zu heiß und bitter. Manni stellt die Tasse aufs Tablett, zu heftig, der Kaffee schwappt über den Würfelzucker. Viereinhalb Stunden unruhiger Schlaf, mehr war nicht drin, wenigstens hat er geduscht und die Klamotten gewechselt. Ein zweiter Schlaganfall, sie haben seinen Vater mit Beruhigungsmitteln voll gepumpt, wie im Koma liegt er da, niemand kann im Moment sagen, ob er je wieder die Augen aufschlagen wird. Ich muss arbeiten, denkt Manni. Ich muss ins Präsidium, mit der Bruckner sprechen, den Tag abstimmen, ich muss auf dem Rastplatz sein, wenn die Hundestaffel kommt, und das ist bald.
»Dein Vater ist ein Dickkopf.«
Dein Vater, dein Vater, denkt Manni. Warum sagt sie eigentlich nicht Günter? Oder »mein Mann«? Aber nein, immer nur »dein Vater« – als sei es Mannis Schuld, dass es diesen Mann in ihrem Leben gibt, als sei ihr Sohn für ihre verdammte, kaputte Ehe mit diesem kaputten, bösartigen Mann verantwortlich, als hätte sie selbst überhaupt nichts zu tun mit ihrem Ehemann. Warum lässt du dich nicht endlich scheiden, Ma? Manni weiß nicht, wie oft er diese Frage schon gestellt hat, und immer blieb sie unbeantwortet. Und jetzt ist eine weitere Runde Leiden eingeläutet. Aber das istdiesmal ihr Problem, das kannste vergessen, dass ich diese Schmierenkomödie der trauernden Witwe als trauernder Sohn mitspiele, einer muss hier schließlich bei Verstand bleiben und das Geld verdienen. Manni springt auf und fegt die Brötchenkrümel von seiner Jeans. Sie spritzen bis auf den Tisch und in den Schoß seiner Mutter, die ganz gegen ihre Art nicht darauf reagiert.
»Ich muss jetzt arbeiten, Ma, schau zu, dass du ein bisschen Schlaf kriegst, ich melde mich später bei dir.«
Als der Aufzug kommt, fühlt er sich wie ein Schwein, aber er drängt das Gefühl brachial beiseite, schiebt sich neben einer winzigen asiatischen Schwester und einem stählernen, leeren Krankenhausbett in die Kabine und drückt auf »Erdgeschoss«. Während der Autofahrt von Bonn nach Köln geht es ihm allmählich besser. Es ist gerade noch früh genug,
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