Unter dem Eis
Schließlich wären sie sich nächste Woche im Präsidium sowieso begegnet, und wer weiß, womit sie sich dann beschäftigen muss. Sie kann nur hoffen, dass es nicht Mannis vermisster Junge sein wird, denn das würde Mannis angeschlagenen Stolz noch mehr verletzen.
Sie haben sich beide um Normalität bemüht in diesem griechischen Imbiss, in dem ihr Exkollege offenbar Stammgastist, und mehr kann man wohl kaum erwarten, solange Manni nicht wieder ins KK 11 versetzt wird. Ich tue für dich, was ich kann, verspricht sie ihm stumm. Das Problem ist nur, dass ich das Standing, das ich mal hatte, verspielt habe und nicht weiß, ob ich es je wieder zurückgewinnen kann.
Sie drückt ihre Zigarette am Geländer aus, verwischt die Aschespuren mit dem Zeigefinger, widersteht der Versuchung, sich sofort die nächste zu drehen. Der Moment bevor Millstätt den amtsärztlichen Befund in sein Ablagekörbchen warf, diese millisekundenlange Ungewissheit darüber, was er mit ihr vorhat, hat sie erkennen lassen, was sie sich zuvor nicht eingestand: Sie will ihren Job zurück, und obwohl Angst dafür die denkbar schlechteste Voraussetzung ist, hat sie Angst. Angst, noch einmal zu versagen. Und das macht sie verletzlich.
Sie geht zurück in ihre Wohnung. Das Gemälde von Charlottes Eistaucher liegt auf dem Wohnzimmerparkett. Seine roten Augen sehen Judith an, seltsam scharfsinnig, als wisse er etwas, was sie noch herausfinden muss. Charlotte hat ihren Rückflug aus Kanada nicht angetreten, nicht storniert und auch nicht umgebucht. Natürlich hat Berthold Recht. Wenn man bedenkt, dass Unglück nun einmal so viel besser zu Charlottes Leben passt als Glück, rechtfertigt dies durchaus ein paar Nachforschungen auf der anderen Seite des Atlantiks. Gibt es irgendwo jemanden, der Charlotte vermisst? Allem Anschein nach niemanden außer Berthold Prätorius, was eine beklemmende Bilanz für ein nahezu vier Jahrzehnte andauerndes Leben ist. Doch welche Berechtigung habe ich, das zu kritisieren?, denkt Judith. Wie viele Wochen hätte es gedauert in meiner schwärzesten Phase, bis jemand meine Wohnungstür aufgebrochen hätte? Und was wäre der Grund dafür gewesen? Sehnsucht? Oder Verwesungsgeruch und ein überquellender Briefkasten, der die Nachbarn störte?
Ja, sie hat daran gedacht, sich umzubringen. Das ist eine Wahrheit. Sie hat es nicht getan, das ist das zweite Gesicht derselben Wahrheit. Charlotte hat große Stücke auf dich gehalten, hat Berthold ihr gesagt. Aber Judith ihrerseits hat Charlotte nicht gemocht. Als Schülerin hat sie ihre Freundschaftsangebote zurückgewiesen, obwohl sie eine gewisse Verbundenheit zu ihr spürte. So, wie sie im Laufe ihres Lebens noch viele Angebote ablehnte, geprägt durch eine Kindheit, in der ihre Eltern sie und ihre Brüder wieder und immer wieder entwurzelten, weil ihr Vater zu oft in einer neuen Stadt sein Glück suchte. Patrick ist eine Ausnahme gewesen, ihn hat Judith niemals auf Distanz gehalten. Nach seinem gewaltsamen Tod hat sie sich wieder abgekapselt, so wie sie es schon als Jugendliche tat. Keine Nähe, keine Schmerzen, das war ihre Strategie. Aber das ist nicht nur maßlos arrogant, sondern auch feige.
Vielleicht ist es an der Zeit, aufzubrechen. Vielleicht hat sie schon zu lange gewartet. Sie geht zu ihrem Sekretär und blättert erneut durch die Unterlagen, die Irene Hummel für sie kopiert hat. Wissenschaftliches Kauderwelsch, detailbesessen, brutal in seiner distanzierten Sachlichkeit. Der Eistaucher auf dem See bei Düren hatte einen Angelhaken verschluckt. Der Haken hatte sich »in seinem oberen Schlund festgesetzt«, die Schnur hatte sich um seinen Fuß gewickelt, so dass der Vogel nicht mehr fischen und sein Gefieder pflegen und einfetten konnte. Hilflos hatten Charlotte und die anderen Studenten mit ansehen müssen, wie er verhungerte. Eine Kreatur der Wildnis, für immer ihrer Wildheit beraubt – durch Menschenhand. Ja, das ist pathetisch, verdammt noch mal, denkt Judith. Aber je länger man darüber nachdenkt, desto wahrer erscheint es, und für Charlotte ist es vermutlich zur einzigen Wahrheit geworden.
Judith versucht, sich die einstige Mitschülerin vorzustellen, wie sie in diesen nasskalten Dezemberwochen vor dreieinhalb Jahren die Schultern in den Parka krümmte und mit klammen Fingern ihr Fernglas vor die Augen hielt – zu weit auseinander stehende Augen, als dass man Charlotte je als Schönheit bezeichnen würde. Was hat sie empfunden? Das ist natürlich nicht
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