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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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hängt sie auf. Im Schlafzimmer packt sie ihren Reiserucksack. Fünf Tage nur. Sie geht zurück in die Küche, holt eine Flasche Kölsch aus dem Kühlschrank, legt sie wieder zurück, geht ins Wohnzimmer und nimmt die Tarotkarten aus dem Regal.
    An die Karten ist sie durch ihren letzten Fall gekommen, als sie im Spätherbst in einem Aschram ermittelt hat. Es ging ihr nicht gut damals, und beinahe hätte der Leiter des Aschrams, ein windiger Typ namens Heiner von Stetten, sie fertiggemacht mit seinen Karten. Trotz der Hitze lässt die Erinnerung Judith frieren. Schwertkönigin hat von Stetten sie genannt. Maskenzerreißerin. 78 Karten, so viele mögliche Antworten auf eine Frage. Hokuspokus also, hat sie gedacht, purer Zufall. Später, im Winter, hat sie dann beweisen wollen, dass die Karten nichts bedeuten. Und doch hat sie, allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung zum Trotz, auch allein immer und immer wieder dieselben Symbole gezogen. Grausamkeit. Niederlage. Den Turm.
    Wie besessen hat sie experimentiert, Bücher gekauft, das Internet durchforstet, regelrecht ermittelt, um die geheimnisvollen Gesetzmäßigkeiten der Karten zu widerlegen. Am Ende musste sie doch kapitulieren. Musste akzeptieren, dass das Tarot seine eigene Wahrheit übermittelt, seine eigene Weisheit. Nicht immer. Aber zu oft, um es als Zufall abzutun.
    Leicht und selbstverständlich gleiten die Karten von Hand zu Hand. Judith schließt die Augen, breitet sie zu einem Fächer aufs Parkett. Das Tarot antwortet nicht mit Ja oder Nein, offene Fragen sind der Schlüssel, und je besser die Frage, desto klarer die Antwort. Judith sitzt mit geschlossenen Augen und wartet, bis sie ihre Frage kennt. »Was werde ich finden, wenn ich Charlotte suche?« Die Frage ist gut, das kann sie fühlen, im Bauch, in der Brust. Sie atmet kontrolliert ein und aus, bevor sie die linke Hand von links über den Kartenfächer schickt, die Augen immer noch geschlossen. Wenn man die Karten befragt, muss man sich von seinen Gefühlen lenken lassen, der Intuition vertrauen, muss akzeptieren, dass es etwas gibt, was unerklärlich ist und trotzdem da. Judiths Finger gleiten über die Karten, fühlen die glatten Flächen, die pappigen Kanten. Alle gleich und doch nicht gleich. Eine der Karten wird plötzlich warm. Judith hält inne, schickt die Fingerspitzen ein Stück nach links, dann wieder zurück. Sie irrt sich nicht, die eine Karte glüht. Sie zieht sie heraus, zögert einen Moment, dann öffnet sie die Augen und dreht die Karte um.
    Ein schwarzes Skelett mit schwarzer Sense. Die Botschaft ist zu plakativ, beinahe lächerlich banal.
    »Was werde ich finden, wenn ich Charlotte suche?«
    »Tod.«

2. T EIL
    Brennen

Dienstag, 26. Juli
    Kein Lufthauch spielt in den Gräsern, nicht einmal ein Vogel tschilpt. Hoch über ihnen kratzt ein Passagierflugzeug eine orange glühende Wunde in den bleichen Frühmorgenhimmel. Heute darf Barabbas nicht allein umherstreifen, Elisabeth vergewissert sich nochmals, dass sie die Leine fest in sein Halsband geklinkt hat, während sie sich dem Wäldchen nähern, wo der Dackel seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Erst hat sie Barabbas daheim lassen wollen, aber dann hat sie das doch nicht übers Herz gebracht. Zu seelenvoll war der Blick seiner dunklen Augen, zu kläglich sein Winseln. Und vielleicht ist es sowieso besser, wenn sie dem, was sie möglicherweise finden wird, nicht allein ausgesetzt ist. Ein Schäferhund, selbst ein alter Schäferhund, ist immerhin ein gewisser Schutz für eine Frau, die den Großteil ihrer Körperkraft darauf verwenden muss, aufrecht zu gehen und das Gleichgewicht zu halten.
    Elisabeth hält inne und stützt sich auf den Spazierstock. Metallene Wimpel und Flaggen zieren das Holz, Erinnerungen an glücklichere Tage. Heinrich hat sie gekauft. Heinrich hat sie an den Stock geschlagen. All die Wanderurlaube, die sie mit ihm in den Alpen und im Schwarzwald verbrachte – vorbei. Vorhin ist sie barfuß über das taufeuchte Gras zu den Erdbeeren gelaufen. Wie ein junges Mädchen hat sie sich da gefühlt. Wie kann es sein, dass sie das Gras unter den Fußsohlen, die duftenden roten Früchte in ihren Fingern genauso spüren kann wie damals, wenn doch ihr Körper welk geworden ist? Das eigentliche Drama ist, dass wir so machtlos sind, denkt sie. Dass wir den Plan der Schöpfung einfach nicht begreifen. Erst ein paar Falten dort und ein paar graue Haare hier, man lebt damit, übersieht sie, bis man eines Tages in den

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