Unter dem Eis
protokolliert, der Bericht konstatiert nur nüchtern, was sie getan hat: Als klar war, dass der Eistaucher sich nicht ernähren konnte, hat die Naturwissenschaftlerin Charlotte Simonis versucht, sich über die Naturgesetzlichkeiten zu erheben, wie auch über das strikte wissenschaftlichePrinzip, nicht einzugreifen. Sie hat die Feuerwehr gerufen, die sich mit Motorboot und Kescher bemühte, den Eistaucher einzufangen. Aber obwohl der Eistaucher geschwächt war, entzog er sich dem menschlichen Zugriff immer wieder in die Unergründlichkeit des Sees. »Der Vogel tauchte immer wieder tief und lange Strecken von ca. 80 m, nur von kurzen Atempausen unterbrochen. Nach mindestens 5–6 Tagen ohne Nahrung waren seine Kraftreserven unvermutet hoch«, konstatiert der Bericht. Zehn Tage später fand Charlotte den Vogel tot auf dem trockenen Ufer liegend. »Zum Sterben hatte sich der Eistaucher wohl einige Schritte auf Land geschoben.«
Judith schiebt den Bericht beiseite und steht auf, irgendetwas treibt sie hoch, irgendetwas an diesem Bericht ist so beklemmend wie alles an Charlottes Leben. Was hat sie empfunden, als sie den toten Eistaucher barg? Judith geht auf die Dachterrasse, starrt in den Himmel, geht zu ihrer Sitzbank, setzt sich doch nicht. Charlotte weigerte sich, den Eisvogel zu sezieren, regelrecht hysterisch sei sie geworden, hat Irene Hummel berichtet. Es war das Ende ihrer Karriere, und ihr eigener Vater hat sie dafür ausgelacht.
Auf einmal ist die Erinnerung an die Schule wieder da. Das Getuschel und Gelächter. Die Unerbittlichkeit, mit der ein paar eitle Backfischprinzesschen darüber richteten, was erlaubt war und was verpönt, und alle schikanierten, die anders waren als sie. Charlottes Blick, wenn sie über sie lachten. Wie sie sich in sich verkroch. Wie hat sie das aushalten können? Und was hat sie getan, wenn sie es nicht mehr ertrug?
Judith kehrt ins Wohnzimmer zurück und schaltet ihr Notebook an. Sie loggt sich ins Internet ein und hat binnen kurzer Zeit die Biologische Fakultät der University of Toronto gefunden sowie eine Telefonnummer der Kriminalpolizei von Ontario. In Toronto ist es jetzt Mittag, eine gute Zeit zum Telefonieren. Aber an der Uni sind Semesterferien, Professor Terence Atkinson macht mit seiner Familie Urlaub in seinem Cottage an den Northern Lakes, wo genau, will seine Sekretärin nicht verraten. Und bei der Polizei bittet man Judith um eine etwas konkretere Anfrage, am liebsten per E-Mailund noch lieber offiziell. Judith klickt sich noch eine Weile durch den Kosmos der kanadischen Kollegen. Lachende junge Menschen verschiedenster ethnischer Abstammungen werben für die Arbeit im Dienst der Polizei. Eine der Seiten sieht aus wie von Laien programmiert, die weiße Kanadaflagge mit dem roten Ahornblatt blinkt zur Begrüßung neben dem Slogan »Ontario – yours to discover«, darunter sind die Wappen der Ortspolizeibehörden abgebildet wie in einem Sammelalbum für Kinder, ganz so, als gäbe es in Ontario keine Verbrechen.
Judith fährt den Computer wieder herunter, so wird sie nichts erreichen. Auf einmal fühlt sie sich rastlos, zur Untätigkeit verdonnert, eingesperrt. Auf einmal fühlt sie Wut, und der Gedanke, nach Kanada zu fliegen und diese stehende Hitze in ihrer Wohnung, die Erinnerungen an das, was war, die Sorgen um das, was noch kommt, hinter sich zu lassen, ist verlockend. Aus der Zeit fallen, aus der Reihe tanzen, zumindest für ein paar Tage. Warum nicht?
Sie schaltet ihr Handy an. Acht Anrufe von ihrem ehemaligen Schulkameraden Berthold Prätorius. Beschwörungen, Schmeicheleien, Besorgnis, Versprechungen. Doch darum geht es nicht, sie schuldet Berthold nichts. Aber sie schuldet Charlotte etwas und vielleicht auch sich selbst. Der Eistaucher sieht Judith immer noch an. Sie starrt zurück und dreht sich eine Zigarette, bevor sie Bertholds Nummer wählt. Wenn er ihr einen Rückflug bucht, mit dem sie pünktlich zurück in Köln ist, wird ihr erster Tag im KK 11 mit einem Jetlag beginnen.
Der Autobahnparkplatz Königsforst ist so wie alle Autobahnparkplätze: hässlich, staubig und laut. Ein paar gammelige Picknicktische, Mülleimer, ein wabenförmiges Klohaus aus Backstein und ein verschlossener, verwaister Imbisswagen mit ein paar Stehtischen, mehr gibt es hier nicht. Zwei dösige LKW-Fahrer hocken auf Klappschemeln neben einem Brummi mit russischem Kennzeichen, essen Butterbrote mitÖlsardinen und trinken Tee. Ein Geschäftsmann in feinem Zwirn schwingt sich
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