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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Spiegel schaut und eine alte Frau zurückblickt. Und man wundert sich, weil die Seele noch jung ist und man sich fremd und zu Unrecht gefangen fühlt in diesem kraftlosen, runzligen Körper. Aber man kann wehklagen oder aufbegehren, so lange man will – ändern kann man nichts.
    Sie hat das Grab des Dackels nicht markiert, hat den Boden einfach glatt gestrichen, als sie fertig war – dennoch findet sie es sofort, genau so, wie sie es verlassen hat. Sie legt die duftende, lachsfarbene Strauchrose aus ihrem Garten auf das Grab. Ruhe in Frieden, kleiner Hund.
    War da ein Geräusch? Barabbas spitzt die Ohren, Elisabeth versucht, zwischen dem lichtgrünen Laubwerk etwas zu erkennen. Nichts.
    »Komm, Barabbas, führ mich durchs Wäldchen, zeig mir, was hier ist.«
    Ihr Hund blickt zu ihr auf, seine Rute schlägt auf den Waldboden. Elisabeth greift die Leine fester. Gott, was für eine Närrin sie ist. Was will sie hier eigentlich finden? In der Nacht hat sie es gewusst, als der Nachtschweiß an ihrem Körper klebte, als die Angst regierte. Jetzt hat sie es vergessen. Barabbas zieht sie zwischen die Birken, schnuppert in den Sträuchern, reibt den Rücken an einem Stamm. Sie überlässt sich seiner Führung, immer noch rätselnd, was sie hier überhaupt sucht.
    Alte Autoreifen, Bauschutt, ein fleckiger Teppichrest, in dessen Falten Barabbas seine Nase vergräbt, bis Elisabeth ihn weiterzieht, Plastikmüll. Mühsam tasten sie sich voran. Insekten summen jetzt und die Sonne schickt die ersten unbarmherzigen Strahlen durchs Geäst. Vom Kraftwerk tönt der übliche Lärm der Förderbänder herüber. Es hat keinen Sinn, das nächtliche Gefühl der Dringlichkeit, das Elisabeth hierher zurückgeführt hat, weicht dumpfer Erschöpfung. Sie schließt einen Moment lang die Augen, Lichtpunkte tanzen im Rot, ihr wird schwindelig, mit aller Kraft stützt sie sichauf ihren Stock. Es hat wirklich keinen Sinn, sie muss nach Hause.
    Zurück in ihrer Küche, gibt sie Barabbas Wasser, isst ein paar Erdbeeren, froh, dass sich ihr Atem allmählich beruhigt. Sie liest die Tageszeitung, während sie frühstückt. Die Überschriften der Politik sind so frustrierend wie immer, Elisabeth überblättert sie. Die Menschen bekriegen sich, fortwährend und nahezu überall auf der Welt, sie richten sich und den Globus zu Grunde, so war es schon immer, das braucht sie nicht täglich aufs Neue zu lesen. Sie sucht auf den Lokalseiten nach Neuigkeiten vom Braunkohletagebau und seufzt erleichtert, als sie keine findet. Am liebsten mag sie die Kultur und die bunten Seiten, das Vermischte aus aller Welt, jedenfalls solange es nicht wieder irgendwo eine Katastrophe gegeben hat.
    14-Jähriger vermisst. Die Nachricht steht ganz unten in der linken Randspalte, beinahe hätte sie sie übersehen. Seit Sonntagnachmittag wird der 14 -Jährige Jonathan Röbel, genannt Jonny, aus Köln vermisst. Der Gymnasiast verschwand spurlos aus einem Zeltlager am Stadtrand von Köln. Er ist 1, 63 m groß, hat blonde, kurzgeschnittene Haare und braune Augen. Er trägt Trekkingsandalen, eine knielange, olivgrüne Hose, eine schwarze Baseballkappe der Marke Puma und ein rotes T-Shirt. Vermutlich führt er seinen Rauhaardackel mit sich. Der Hund hört auf den Namen Dr. D.
    Dr. D. Unwillkürlich fliegt Elisabeths Hand zu ihrer Kehle, ihr Herz beginnt erneut zu jagen. Auf einmal weiß sie wieder, was sie gesucht hat. Abends unter dem Kirschbaum und nachts, als ihr Rücken sie am Schlafen hinderte, hat sie auf einmal nicht mehr glauben können, dass der Dackel, den Barabbas totgebissen hat, wirklich ganz allein gewesen ist. Gehörte der Dackel vielleicht einem Kind?, hat sie überlegt. Nur welchem? Der Nachbarjunge hat seinen Struppi noch, das hat sie überprüft. Jonathan Röbel, genannt Jonny … hört auf den Namen Dr. D. , sachdienliche Hinweise an … Wieder und wieder liest sie die Nachricht.
    Aber es kann nicht der Dackel aus dem Frimmersdorfer Wäldchen sein, um den es in der Zeitung geht, denn wie sollte der von Köln hierher kommen, ganz ohne Halsband,mit nur einem Ohr, ohne seinen Besitzer? Nein, sie kann der Polizei keine sachdienlichen Hinweise geben und sie muss Barabbas schützen. Und ohnehin, wer würde auf sie hören, eine alte, vergessliche Frau? Sentimental noch dazu, weil sie einen fremden Hund in einem Kinderkoffer begräbt. Eine Erinnerung blitzt auf, foppt und quält Elisabeth. Etwas war da, in diesem Wäldchen. Etwas, was sie am Sonntagmorgen vielleicht

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