Unter dem Eis
feixend neben ihm. »Na, hast du den Bullen gestern einen vorgesülzt?« – »Rinkerstinker!« Jemand lacht. Viktor. Tim spürt, wie ihm die Röte ins Gesicht schießt. Viktor ist nicht in seiner Klasse, sondern in Jonnys. Jetzt dauert es also nicht mehr lange, bis wirklich alle in der Schule seinen neuen Spitznamen kennen, hätte er sich ja gleich denken können, dass Lukas und seine Kumpels dafür sorgen, dass die Geschichte mit dem Furzkissen in der Schule rumgeht. Und kein Jonny da, mit dem er die Pausen verbringen kann.
Jetzt bloß nicht heulen, jetzt bloß niemanden merken lassen, wie es um ihn steht. Das letzte Mal, als er geheult hat, haben sie das mit dem Handy fotografiert. Tagelang haben sie das Bild rumgemailt und sich darüber begeiert. ZumGlück überholen ihn Lukas und Viktor, ohne sich noch weiter um ihn zu kümmern. Tim steigt vom Rad und bückt sich, scheinbar hochkonzentriert, nach der Gangschaltung. Andere Schüler radeln an ihm vorbei. Tim tut so, als ob er sie nicht bemerkt, fummelt blind an irgendwelchen Zügen rum. Bloß nicht zeigen, wie es um ihn steht. Bloß nicht zeigen, dass er Angst hat. Wenn er hier noch ein bisschen abwartet, wird er diesen Blödmännern mit etwas Glück nicht auch noch auf dem Radabstellplatz in die Arme laufen. Vielleicht geht Lukas ja schnurstracks auf den Schulhof, zu den anderen Arschgeigen aus ihrer Klasse, brüstet sich damit, wie er es Tim gerade gegeben hat. Und Viktor wird bestimmt schon sehnsüchtig von Cousinchen Ivonne erwartet, und wenn die beiden erst mal rumknutschen, hat er kein Auge mehr für Tim. Und dann außenrum über den Schleichweg am Zaun entlang zum Labor, wo sie in den ersten beiden Stunden Physik haben, eines von Tims Lieblingsfächern. Wenn er es geschickt anstellt, schafft er es in den Unterricht, ohne vorher Lukas und den anderen zu begegnen. Und diesmal wird er erst seinen Stuhl kontrollieren, bevor er sich setzt.
Dom, Rhein und Polizeipräsidium gleiten vor den Fenstern des ICE vorbei. Sie hat es geschafft. Einen Augenblick lang denkt Judith an Charlotte, wie es ihr ergangen sein muss, was sie gefühlt und gedacht hat, am Anfang ihrer ersten und vielleicht auch letzten großen Reise.
Der Tod im Tarot bedeutet nur selten den physischen Tod. Vielmehr steht die Karte für das universale Prinzip des Loslassens, der – laut Tarotsymbolik – wichtigsten Voraussetzung für die Geburt neuer Formen. Trotzdem bleibt die Erinnerung an die Karte vage beunruhigend. In der Nacht hat Judith den Fledermäusen zugesehen und festgestellt, dass sie keine Lust hat, die Reise nach Kanada zu stornieren, egal was die Karten ihr sagen. Also hat sie am Morgen eine Digitalkamera und ein neues Triband-Handy gekauft und eine Rufumleitung von ihrem Festnetzanschluss auf das Handy gelegt, um auch aufder anderen Seite des Atlantiks erreichbar zu sein. Und jetzt ist sie unterwegs.
Der Zug lässt Köln hinter sich und beschleunigt auf Tempo 300 , die Landschaft beginnt zu fliegen. Judith stöpselt die Kopfhörer ihres iPods in die Ohren. Sie braucht die passende Musik für den Beginn ihrer Reise, nicht zu ruhig, auf keinen Fall zu schwermütig, etwas mit Kraft. Sie spielt verschiedene Titel an und entscheidet sich schließlich für Patti Smith’ Horses.
Im Frankfurter Flughafen checkt sie ein und vergewissert sich nochmals, dass ihr Rückflug sie am Sonntag rechtzeitig vor Dienstbeginn nach Köln bringen wird und dass sie, sollte es nötig sein, auch umbuchen und früher zurückfliegen kann. Im Zeitungsladen kauft sie Die Zeit und einen historischen Roman von Petra Durst-Benning: Die Amerikanerin, das scheint zu passen. Das Business-Ticket erlaubt es ihr, in der VIP-Lounge zu warten. Sie lädt ein hauchdünnes Thunfischsandwich und Oliven auf einen Puppengeschirrteller und genehmigt sich ein Glas Wodka-Orange. Kurz bevor ihr Flug aufgerufen wird, ruft sie Manni an. Er meldet sich knapp, gehetzt, als erwische sie ihn während eines Dauerlaufs. Vermutlich steht er gerade schwitzend in irgendeinem Gestrüpp, auf der Suche nach seinem verschwundenen Jungen.
»Ich werde verreisen, bis Sonntagabend«, sagt sie. »Wenn in den nächsten Tagen irgendwas im Präsidium passiert, was mich angeht, würdest du mich dann anrufen?«
»Ich dachte, du warst gerade im Urlaub, braun, wie du bist.«
»Dachterrasse.«
Manni schweigt.
»Würdest du mich anrufen?«
»Wohin fährst du?«
»Kanada.«
»Deine Schulfreundin.«
»Ja. Rufst du mich an?«
»Wenn was ist,
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