Unter dem Eis
Tiefseefisch, er ist kein Späher und er hat keinen Freund mehr.
Er ist ein Nichts. Er will nicht mehr leben.
Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Polizei kommt und die Todesnachricht überbringt. Martina weiß, dass das so sein wird, sie weiß, dass Jonny in der vergangenen Nacht gestorben ist, auch wenn Frank behauptet, eine leere Taschenlampenbatterie sei kein Zeichen, Martina solle sich beruhigen, nicht so hysterisch sein, sich zusammenreißen. Sie hat ihn noch nicht auf die 20 000 Euro angesprochen. Sie konnte einfach nicht. Den verräterischen Kontoauszug hat sie in ihrem Kleiderschrank in den Karton mit den Tampons und Slipeinlagen gestopft. Da ist er sicher.
Sie küsst Marlene und Leander, hilft Frank, die beiden in die Kindersitze zu bugsieren, winkt dem Passat nach, der den verbliebenen Rest ihrer Familie für einen weiteren Vormittag von ihr entfernt. Wie lässt sich Schuld bemessen? Was auch immer Franks Vergehen sein mag – auch sie selbst hat Jonny im Stich gelassen. So eilig hatte sie es, zu ihrem Theaterworkshop zu kommen, so wichtig erschien es ihr, nach Jahren des Verzichts ihren Traum wiederzubeleben. Wenn sie das nicht getan hätte, wenn sie da gewesen wäre für Jonny, wenn sie darauf bestanden hätte, dass er ihr sagt, was ihn bedrückt, wenn sie ihm beim Packen geholfen hätte, darauf geachtet hätte, dass er seine Taschenlampe einsteckt, wenn sie vielleicht sogar mit ins Indianercamp gefahren wäre, dann würde er noch leben.
Sie brüht Pfefferminztee auf. Tee und Zwieback ist das Einzige, was ihr Körper noch akzeptiert. Als es an der Haustür klingelt, zuckt sie zusammen und beginnt zu zittern. Auch wenn sie wusste, dass sie kommen werden, so schnell hat sie nicht mit ihnen gerechnet. Die Ungewissheit, die ihr in den letzten Tagen so unerträglich vorgekommen ist, wird plötzlich zum erstrebenswerten Zustand.
Der blonde Kommissar Korzilius hat Schatten unter den Augen. Was ist mit Jonny, wo ist er?, will sie fragen und schafft es nicht. Stattdessen schenkt sie dem Kommissar eine Tasse Tee ein und kauert sich auf die Eckbank, ein stummer Kampf um jede Sekunde Unwissenheit. Korzilius nimmt ihr gegenüber Platz, genauso wie vorgestern und gestern. Wie schnell sich aus einer Zufallsbegegnung Gewohnheiten entwickeln,wie schnell man zu einer Gemeinschaft wird, auch wenn diese aus Not und Pflicht geboren ist. Der Kommissar hebt an, etwas zu sagen, aber das Fiepen seines Handys kommt ihm zuvor. Er mustert das Display mit einem misslaunigen Blick, bevor er das Gespräch entgegennimmt.
»Ja, Karl-Heinz?« Sein Kuli tippt auf seinen Block. »Kein Zweifel also. Danke.«
Er klappt sein Mobiltelefon wieder zusammen, wendet sich Martina zu.
»Ihr Dackel, Frau Stadler, wir haben ihn heute Morgen gefunden.«
Nicht Jonny. Dr. D.
»Er hat ja einen dieser Mikrochips implantiert, zusätzlich zur Tätowierung im Ohr, es besteht also kein Zweifel, dass es sich um Ihren Dackel handelt. Leider ist er tot.«
»Jonny …« Sie schafft es nicht, weiterzusprechen. Kann es sein, dass sie sich geirrt hat? Dass es doch noch Hoffnung gibt? Nein.
»Wir haben nur den Dackel gefunden.«
Wieder meldet sich das Handy des Kommissars, wieder betrachtet er das Display, doch diesmal nimmt er das Gespräch nicht an. Stattdessen redet er von einem Ort, Frimmersdorf, den sie nicht kennt, von einer Kirche, von einem Koffer. Besonders der scheint wichtig zu sein. Er legt ein Polaroidfoto dieses Koffers vor Martina auf den Küchentisch.
»Kann es sein, dass dieser Koffer Jonny, gehört? Haben Sie diesen Koffer schon einmal gesehen?«
Martina schüttelt den Kopf.
»Hat Ihre Familie, hat Jonny irgendeinen Bezug zu Frimmersdorf?«
»Ich weiß nicht einmal, wo das ist.«
»Etwa 40 Kilometer nordwestlich von hier, am Rande des Braunkohletagebaugebiets Garzweiler.«
Garzweiler. Irgendetwas ist damit, irgendwas hat Frank mal davon erzählt. Von jemandem, den er kennt, der da wohnt? Es fällt ihr nicht ein.
»Jemand hat Ihren Dackel in diesem Koffer ja also, man muss beinahe sagen, liebevoll aufgebahrt. Das spricht dafür,dass, wer immer das getan hat, den Hund mochte. Halten Sie es für vorstellbar, dass das Jonny war?«
»Jonny hat Dr. D. getötet und aufgebahrt? Ist es das, was Sie sagen wollen?« Martinas Stimme klingt sachlich, distanziert. Der blonde Kommissar versteht nichts, er wird ihren Sohn nicht finden, er kann ihr nicht helfen, so wenig wie Frank. Die Erkenntnis, dass das die Wahrheit ist,
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