Unter dem Eis
erleichtert sie beinahe. Martina fühlt, dass etwas in ihr erkaltet und sie endlich fähig ist zu handeln.
»Vielleicht hat Jonny seinen toten Hund ja nur zur letzten Ruhe gebettet«, sagt der Kommissar.
»Sie verschwenden Ihre Zeit, wenn Sie meinen Sohn verdächtigen. Jonny ist tot«, sagt Martina, mit dieser neuen eisigen Ruhe.
»Sagen Sie das nicht.«
»Ich bin seine Mutter. Ich spüre das.«
Der Kommissar steht auf. Seinen Tee hat er nicht angerührt.
»Ich muss noch einmal mit Ihrem Mann sprechen, Frau Stadler.«
»Er bringt gerade die Kleinen zu seinen Eltern.«
Wieder fiept das Handy des Kommissars. Wieder kontrolliert er das Display mit gefurchter Stirn, bevor er sich meldet.
»Ich komme sofort«, sagt er knapp.
»Woran ist Dr. D. gestorben?«, fragt Martina.
»Das wissen wir noch nicht. Sagen Sie Ihrem Mann, er soll sich bei mir melden. Ich finde selbst hinaus.«
Um kurz vor fünf wacht Judith auf, benommen von einem Traum, an den sie sich nicht erinnern kann, benommen von einer weiteren viel zu kurzen Nacht. Sie dreht sich auf den Rücken und schiebt das Kopfkissen zurück an seinen Platz, das sie im Schlaf in ihre Arme gezogen hat, als sei es ein Geliebter. Hat Margery Cunningham Recht, ist David Becker ein auf Touristinnen spezialisierter Casanova? Etwas zieht sich in Judiths Bauch zusammen. Ihr Körper ist ein Verräter. Sehntsich nach Berührungen, giert nach Nähe mit der ausgehungerten Kompromisslosigkeit eines Exhäftlings. Doch darum geht es nicht, darf es nicht gehen. Viel wichtiger ist jetzt, dass der Guide David Becker der Schlüssel zu Charlottes Aufenthaltsort ist.
Judith steht auf und streift ein Baumwollhemd über den Kopf. Sie schenkt sich ein Glas Leitungswasser ein, nimmt ihr Tabakpäckchen und tritt auf Davids Veranda. Die Luft ist kühl. Ein zartrosa Schleier hängt über der Georgian Bay, zwei Reiher oder Kraniche ziehen mit majestätischem Flügelschlag über die Bucht, eine Jacht gleitet aus dem Hafen, lautlos, obwohl keines der Segel gesetzt ist. Ist es das, was Charlotte Simonis gesucht hat? Diesen Überfluss an Raum und Weite, an Licht und Luft, so gegensätzlich zu ihrem bisherigen, von kranken Eltern und toten Puppenaugen dominierten Leben. So gegensätzlich auch zu Köln, dieser Stadt ohne freien Blick, in die sich zu den Tauben, Elstern und Amseln allenfalls ein paar Möwen und im Sommer die Mauersegler verirren. Sogar die Spatzen sterben ja inzwischen aus.
Judith dreht sich eine Zigarette. Unternimm nichts auf eigene Faust, rede vorher mit mir, hat Margery Cunningham gesagt, als das Feuer heruntergebrannt war und die Weinflasche leer. Ich hätte ihr von David und mir erzählen sollen, denkt Judith. Das wäre fair gewesen, schließlich hat sie mir geholfen und in Sachen Charlotte in erstaunlich kurzer Zeit erstaunlich viel herausgefunden, obwohl ich noch nicht einmal einen Dienstausweis vorlegen kann. Sie hat mir vertraut. Aber Judith hat lediglich preisgegeben, dass sie heute mit David sprechen will, und die kanadische Kommissarin hat ihr das zugestanden. Vielleicht unterschätze ich sie, denkt Judith, vielleicht ließe sie mich auch gewähren, wenn ich ehrlich bin, mit emotionalen Risiken kennt sie sich schließlich aus.
Sie drückt ihre Zigarette aus und geht zurück ins Innere des blauen Holzhauses. Wer ist David Becker? Sie könnte Schubladen aufziehen, Schränke durchsuchen, sein Notebook hochfahren, in Ordnern blättern, doch das würde seine Gastfreundschaft verraten und noch etwas anderes, über das sie im Augenblick lieber nicht so genau nachdenken will. Sie setztKaffee auf. Die Versuchung ist groß, Manni anzurufen, um zu hören, dass wenigstens im Kölner Präsidium alles seinen Gang geht, aber sie gibt ihr nicht nach. Keine Schonfrist, hat Millstätt gedroht. Hoffentlich hat Manni seinen vermissten Jungen heil gefunden, bevor sie am Montag ihren Dienst antritt. Aber selbst wenn nicht, kann sie nichts machen, also ruft sie Berthold Prätorius an.
»Ich glaube nicht, dass Charlotte in Kanada promovieren will«, sagt er, als Judith ihren Bericht beendet hat. »Das hätte sie mir bestimmt gesagt.«
»Warum bist du dir so sicher?«
»Wir haben immer über alles Berufliche gesprochen.«
»Aber nicht über Charlottes Rausschmiss von der Kölner Uni, als sie sich weigerte, den toten Eistaucher zu sezieren.«
»Na ja, nein, nicht viel. Trotzdem …«
»Du meinst, es muss etwas sehr Persönliches sein, weshalb Charlotte nach Kanada geflogen ist, sonst
Weitere Kostenlose Bücher