Unter dem Eis
irgendwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen in dieser Nacht? Sind sie mal wach geworden?«
Pater Lehmann schüttelt den Kopf. Auf seinem strähnigen Schädel perlt der Schweiß.
Unten hält jetzt der Bus der Spurensicherer; wie eilige Notärzte, die noch die Chance haben, ein Leben zu retten, hasten Karin und Klaus in ihren weißen Overalls die Treppe hinauf.
»Genau den gleichen Koffer hatte ich als Kind auch«, ruft Karin begeistert. »Heute gibt’s die wahrscheinlich gar nicht mehr.«
Guter Punkt, denkt Manni, ein erster Hinweis auf den Täter und zugleich nur ein weiteres Rätsel, das es zu lösen gilt. Er schiebt ein Fisherman’s zwischen die Zähne, um denbeißenden Magensäuregeschmack zu bekämpfen. Das Aspirin mit Cola, das er vorhin eingeworfen hat, scheint endlich seinen Job zu erledigen, die Kopfschmerzen ebben allmählich ab. Trotzdem fühlt er sich alles andere als fit.
»Erdreich«, sagt Karin. »Überall. Der Koffer ist zwar abgewischt worden, aber ich könnte schwören, dass der vor kurzem mit Erde in Kontakt war.«
»Du meinst, er war im Dreck abgestellt?«
»Dann würden die Ritzen nicht so voll sitzen. Sieht eher aus, als wäre er vollständig mit Erde bedeckt gewesen, vielleicht vergraben.«
»Vergraben wie beerdigt?«
»Gut möglich.«
»Und warum wurde er dann wieder ausgebuddelt?«
»Das herauszufinden ist nicht mein Job, Manni.«
Er hat alles sorgfältig vorbereitet. Eine Tasse mit heißem Wasser versteckt, Hände und Gesicht im Badezimmer so lange unter den brühheißen Wasserstrahl gehalten, bis sie rot geschwollen waren und ihm die Schmerzenstränen nur so aus den Augen stürzten. Aber das war unwichtig, weil es ihn vorerst gerettet hat. Seine Mutter ist in sein Zimmer gekommen, um ihn für die Schule zu wecken. Er hat ein bisschen gestöhnt und gejammert, und sie hat seine heiße Stirn befühlt und das Fieberthermometer geholt. Er hat sie um ein Glas Saft gebeten und während sie es holen ging, die Spitze des Thermometers in die Wassertasse getaucht. Nur kurz, das hat schon gereicht. Mit erwiesenen 38, 6 Grad Fieber darf er im Bett bleiben, und nun ist seine Mutter auch nicht mehr sauer, dass er gestern so spät aus der Schule gekommen ist und als Erklärung nur etwas von Bauchweh genuschelt hat.
Tim schließt die Augen. Er hat seine Mutter gebeten, die Vorhänge geschlossen zu lassen, weil angeblich die Sonne blendet. In Wirklichkeit will er die Sonne einfach nicht sehen und selbst die Korallenfische auf den Vorhängen können ihn heute nicht trösten. Er kann nie wieder in die Schule gehen,so viel ist klar. Aber genauso klar ist, dass er den Grund dafür niemandem sagen kann.
In der Nacht hat er wieder geträumt, dass er im Ozean taucht, plötzlich nicht mehr weiß, wo er ist, und schreit. Er hat gespürt, dass er nicht allein ist, andere Taucher waren da oder Raubfische, irgendeine lauernde Gefahr, unsichtbar und doch jederzeit bereit, ihn noch tiefer von der rettenden Oberfläche wegzudrängen. Er hat keine Luft mehr bekommen. Das Meer, einst sein Verbündeter, sein Schutz, ist zum Feind geworden. Selbst das haben sie ihm genommen.
Tim langt nach einem der Bildbände auf seinem Nachttisch. Lustlos blättert er durch die Unterwasserfotos, an denen er sich sonst nicht satt sehen kann. Nur ein Bild vermag ihn ein klein wenig zu fesseln. Sandiger Meeresboden, aus dem bei längerem Hinsehen zwei dunkle Augen herausschauen. »Der Pfauenbutt kann seine Körperfärbung dem jeweiligen Untergrund, auf dem er liegt, anpassen«, lautet die Bildunterschrift. Der Pfauenbutt kommt als ganz normaler Fisch auf die Welt, aber weil er immer seitlich schwimmt, verändert er sich im Laufe seines Lebens grundlegend. Sein Körper wird platt. Sein linkes Auge wandert über den Kopf bis ganz in die Nähe seines rechten Auges. So kann der Pfauenbutt, wenn er flach über dem Meeresgrund dahingleitet, mit beiden Augen nach Feinden über sich Ausschau halten. Und wenn er unsichtbar sein will, vergräbt er sich im Meeresboden. Die Augen sitzen erhöht, in sandfarbener Fischhaut. Wenn der Pfauenbutt sie öffnet, dienen sie ihm als Periskope, wie bei U-Booten.
Der Gedanke an Periskope bringt die Erinnerung an das Fernglas zurück, an Jonny und an das bittere Wissen, dass er, Tim, es nicht geschafft hat, ein unsichtbarer Späher zu sein. Tränen schießen ihm in die Augen, als er daran denkt, wie sie ihm die Hose runtergezogen haben. Angewidert stößt er den Bildband beiseite. Er ist kein
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