Unter dem Eis
der sich als Pater Lehmann vorstellt. Weiße Haarsträhnen kleben auf seinem Schädel, nervös fingert er an seinem Priesterkragen herum, der die heftigen Auf-und-Ab-Bewegungen des Adamsapfels ganz offensichtlich behindert. Die Kirche St. Martin überragt mit spitzem Schieferdach die engstehenden Backsteinhäuschen des Dorfs. Der Wetterhahn blitzt golden im Frühmorgenlicht. Irgendwo hupt in nervtötenden Intervallen die Sirene einer Fabrik und macht so jeden Eindruck vermeintlicher Landidylle zunichte. Frimmersdorf, rund 40 Kilometer außerhalb Kölns gelegen, ist voll und ganz der Stromproduktion unterworfen, auch wenn die Luft in den Gassen verhalten nach Kuhmist riecht. Wie ein in einer von Überland-Stromleitungen und Kühlwasserwolken ausstoßenden Kraftwerken beherrschten Industrielandschaft vergessener Flecken liegt es da.
Ein kleiner Trupp meist älterer Bürger hat sich in respektvollem Abstand hinter Pater Lehmann versammelt, von Minute zu Minute werden es mehr. Stumm starren sie Manni an. Er räuspert sich.
»Also, dann wollen wir mal, Herr Lehmann.«
Der Pater nickt und setzt sich augenblicklich in Bewegung, über die Gasse, dann an der Kirchenmauer entlang. SteileSteinstufen führen zum Haupteingang von St. Martin, oben steht ein uniformierter Kollege der örtlichen Kreispolizeibehörde. Lehmann stützt sich schwer auf das schmiedeeiserne Geländer und schaudert. Der unverwechselbare Gestank verwesenden Fleischs liegt in der Luft.
»Ich stehe früh auf, um fünf Uhr morgens, spätestens um halb sechs, das ist so meine Zeit. Ich wohne gleich hier.« Der Priester deutet auf eines der geduckten Backsteinhäuser. »Ich trinke also meinen Kaffee, dann will ich meine gewohnte Morgenrunde drehen und da sehe ich zu Füßen unseres Herrn Jesu den Koffer.«
Ein Koffer zu Füßen des Herrn, Manni unterdrückt ein Grinsen. Doch als sie die Treppe erklimmen, erkennt er, dass diese Beschreibung weniger fromm als vielmehr präzise ist. An der Kirchenfassade, neben dem verschlossenen Eingangsportal, ist ein lebensgroßer hölzerner Jesus ans Kreuz geschlagen. Ein verwittertes Kupferdach beschattet sein dornengekränztes Haupt. Zu seinen Füßen steht ein Waschbetonkübel, in dem Efeu und allerlei Blühzeugs sprießen. Daneben liegt ein rotgrün karierter Kinderkoffer.
»Zuerst dachte ich, das sei eine Opfergabe oder ein Kinderspielzeug, aber der Gestank …« Wieder versucht Pater Lehmann, seinen Priesterkragen zu lockern. »Und dann sehe ich auf dem Deckel diesen Zeitungsausschnitt mit dem Foto von diesem vermissten Jungen und seinem Hund.«
»Sie haben den Koffer geöffnet?«
Der Adamsapfel hüpft noch heftiger auf und ab. »Ich hielt das für meine Pflicht.«
Sie werden die Fingerabdrücke des Paters nehmen müssen. Manni streift Latexhandschuhe über, befiehlt seinem Magen, ihm keine Schande zu machen, und klappt den Deckel auf. Augenblicklich surren Fliegen herbei, kein Wunder, der Gestank ist überwältigend. Ein blindes Hundeauge starrt ihn an. Da, wo ein Schlappohr sitzen sollte, ist nichts als verkrustetes Fell, was den auf weißen Laken ruhenden Kopf seltsam verzerrt wirken lässt. Vermutlich ist er auch schon aufgedunsen, Karl-Heinz Müller wird begeistert sein. Der Rumpf des Tiers ist von Tüchern bedeckt. Wie aufgebahrt, beinahe liebevollarrangiert liegt der Rauhaardackel da. Wer auch immer dafür verantwortlich ist, hat sich Mühe gegeben.
Mannis Handy beginnt zu vibrieren, er nimmt das Gespräch an, ohne aufs Display zu gucken.
»Manfred, dein Vater … du musst.«
»Nicht jetzt, Mutter.« Er drückt das Gespräch weg. Und noch einmal, als sein Telefon erneut vibriert. Magensäure ätzt in seiner Kehle, er schluckt hart, richtet sich auf. Pater Lehmann beobachtet ihn aufmerksam.
»Die Kriminaltechniker müssen jeden Moment kommen«, sagt Manni zu den Streifenbeamten, und zum Priester: »Wann genau haben Sie diesen Koffer entdeckt?«
»Kurz nach halb sechs.«
»Haben Sie jemanden gesehen?«
»Nein.«
»Seit wann kann der Koffer hier gelegen haben?«
»Nicht länger als ein paar Stunden. Gestern Abend bin ich noch spät von einem Hausbesuch zurückgekehrt, etwa um 23 Uhr, da war der Koffer sicher noch nicht da.«
Manni betrachtet eine Straßenlaterne. »Ist hier nachts beleuchtet?«
»Um Mitternacht gehen die Lampen aus.«
Also wird der Kofferträger das abgewartet haben. Bleiben immer noch fünf Stunden. Man muss die Anwohner befragen, vielleicht hat jemand was bemerkt.
»Haben Sie
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