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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Augen hört man viel besser, all die vertrauten Geräusche klingen ganz neu. Die gemurmelte Begrüßung seiner Eltern, die Schritte auf der Treppe, das Rauschen des Wasserhahns imBadezimmer. Tim hält die Augen fest geschlossen und bemüht sich, möglichst gleichmäßig zu atmen. Wenn er Glück hat, schaut sein Vater nur kurz zu ihm rein und lässt ihn in Ruhe. Die Zimmertür schwingt auf, ohne das kleinste Geräusch, trotzdem merkt er das. Schritte auf dem Boden, das Rücken eines Stuhls, eine Hand auf seiner Stirn. Tim zuckt zusammen und hasst sich dafür, warum schafft er es nicht einmal, sich schlafend zu stellen?
    »Tim? Was ist los?« Die Stimme seines Vaters ist leise.
    Tim öffnet die Augen, unfähig, etwas zu erwidern. Sein Vater schaltet die Nachttischlampe ein.
    »Fieber hast du keins. Lass mich mal in deinen Hals gucken.«
    »Hab keine Halsschmerzen.« Es ist zwecklos, einem Vater, der Arzt ist, etwas vorzumachen.
    »Haben sie dich in der Schule wieder geärgert? Soll ich noch mal mit deiner Lehrerin sprechen? Oder mit dem Leiter der Schach-AG, wie heißt er noch gleich, den magst du doch?«
    Nein, nein, nein. Heftig schüttelt Tim den Kopf. Auf keinen Fall darf sein Vater in die Schule gehen, das macht alles nur noch schlimmer. Nach dem ersten Mal hat die Dolling, die damals noch seine Klassenlehrerin war, Lukas direkt zur Rede gestellt. Vor der gesammelten Klasse musste Tim sagen, was er Lukas vorwarf, und Lukas musste sich entschuldigen. Seitdem waren Lukas und seine Kumpels im Unterricht vorsichtiger, aber die Quälereien und Hänseleien auf dem Schulhof wurden umso schlimmer. Doch Tim hat seine Lektion gelernt und eisern geschwiegen. Bis diese Sache mit dem I-Pod passierte. Tims neuer iPod, einfach aus der Schultasche geklaut, von Lukas, der sogar offen mit seiner Beute prahlte. Nach einem erneuten Besuch seiner Eltern in der Schule tauchte Tims iPod dann wieder auf, in seiner eigenen Sporttasche, wie peinlich. Danach wurde Tim noch mehr gehänselt, und seit einem Telefonat mit Lukas’ Vater glaubten selbst Tims Eltern, er habe seinen I-Pod verschlampt und die Geschichte von Lukas erfunden, damit sie nicht mit ihm schimpften. Öffentlich entschuldigen musste er sich bei Lukas, vor der ganzen Klasse.
    »Was ist los, Tim?« Die Stimme seines Vaters holt Tim zurück in die Gegenwart. »Ist wieder etwas vorgefallen in der Schule?«
    »Nein, nichts. Du musst nicht in die Schule gehen, bitte.« Tims Augen füllen sich mit Tränen, beschämt presst er die Fingerkuppen in die Augenwinkel, aber das hilft nichts, es kommt immer noch mehr Wasser nach. »Ich hatte nur Fieber heute Morgen und Kopfschmerzen.«
    »Es ist wegen Jonny, nicht wahr?«
    Noch mehr Tränen, was ist er nur für eine blöde Heulsuse.
    »Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben, Timmy.« Sein Vater spricht ungewohnt sanft. »Morgen früh gehst du wieder zur Schule. Vielleicht ist dein Freund bis dahin ja wieder da.«
    Tim lauscht, wie sich die Schritte seines Vaters wieder entfernen. Er weiß, dass seine Eltern jetzt unten im Wohnzimmer streiten werden. Er schleicht zur Tür, öffnet sie einen Spalt. Satzfetzen flattern zu ihm hoch.
    »… verwöhnst ihn!«
    »… bist immer weg!«
    »… denkst nur an dich!«
    »… kommt aufs Internat … fängt er auch schon mit Kopfschmerzen an … wie du.«
    »… sei froh, dass er noch lebt!« Seine Mutter schluchzt auf, ein trockenes, krächzendes Geräusch. Tim zieht die Zimmertür wieder zu. Sein Vater murmelt etwas und öffnet die Hausbar, Gläser klirren, das Schluchzen seiner Mutter ebbt ab.
    Wenn man sich die Pulsadern aufschneidet, stirbt man nicht immer. Besser, man sticht sich ins Herz. Vorsichtig dreht Tim den Schlüssel im Schloss, erst dann zieht er Jonnys Messer aus dem Versteck bei den Seeigelschalen. Wo genau ist das Herz? Tim tastet über seinen Brustkorb, fühlt die Erhebungen der Rippen, fast schmerzhaft das harte Pochen darunter. Wenn er die Messerspitze genau richtig platziert, sich dann bäuchlings auf den Boden wirft, wird das gehen? Und wo genau ist »richtig«?
    Die Messerspitze ist scharf. Kühl. Er traut sich nicht. Was,wenn er nicht die richtige Stelle erwischt? Dann werden sie ihn wieder zu einem Psychologen schicken, sie werden mit seinen Lehrern reden. Jonny würde sicher wissen, wo die richtige Stelle ist. Wie enttäuscht wäre Jonny von ihm. Ein Späher, der sich erwischen lässt. Ein Junge, der zu feige ist, seinem Leben ein Ende zu bereiten, wenn die Zeit

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