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Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Stadler.
    »Vielleicht hat er es gar nicht mitbekommen. Vielleicht war derjenige, der es tat, schneller als er.«
    Martina Stadler schüttelt den Kopf. »Die beiden waren unzertrennlich.«
    Umso größer muss sein Entsetzen gewesen sein, wenn jemand seinen Hund verletzt, denkt Manni. Wenn er erkennen musste, dass er das nicht verhindern konnte.
    »Er hätte seinen Hund in jedem Fall beschützt«, beharrt Martina Stadler mit seltsam monotoner Stimme. »So war er einfach, er musste helfen, wenn jemand in Not war, musste die Welt verbessern. Im Schwimmbad zum Beispiel, wenn zwei Kinder rauften – Jonny ging dazwischen, selbst wenn die anderen größer waren als er. Ich fand das oft leichtsinnig, aber seltsamerweise kam er immer damit durch. Wie in der Schule. Er war der Kleinste, der Jüngste, hochintelligent – also eigentlich dafür prädestiniert, gehänselt zu werden. Aber stattdessen wurde er respektiert.«
    »Sind Sie da ganz sicher?«
    »Ja.«
    »Eltern wissen nicht immer alles von ihren Kindern.«
    »Jonny war glücklich. So glücklich, wie es eben ging.«
    Er glaubt ihr nicht, aber bevor er nachhaken kann, beginnt sein Handy zu vibrieren. Thalbach. »Wir haben hier eine Zeugin wegen dieses Koffers, wär gut, wenn du dich augenblicklich drum kümmerst«, befiehlt sein Chef.
    »Ich bin mitten in einer Vernehmung und wollte dann in die Schule.«
    »Da hab ich Petra gerade hingeschickt. Wann kannst du hier sein?«
    »Ich beeil mich.« Manni sieht auf seine Armbanduhr, dann zu Martina Stadler. Mit unbewegtem Gesicht zieht sie den Wollschal enger um sich.
    »Frau Stadler, wo ist Ihr Mann?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Und das beunruhigt Sie nicht?«
    »Er ist ein freier Mensch.«
    »Haben Sie ihm gestern ausgerichtet, dass ich ihn sprechen muss?«
    Sie nickt.
    »Frau Stadler, wenn es etwas gibt, was sie mir sagen möchten. Etwas über Ihren Mann. Sie müssen das natürlich nicht. Aber andererseits ist es nicht immer die beste Lösung, jemanden zu schützen, indem man schweigt.«
    Es ist, als ob sie ihn nicht hört.
    »Sagen Sie Ihrem Mann, er soll sich noch heute bei mir melden. Sonst müssen wir ihn zur Fahndung ausschreiben.«
    Ihr Schweigen begleitet ihn auf den gepflasterten Weg im Vorgarten, vorbei am Chaos des immer noch verstreuten Kinderspielzeugs. Ein Bild, das in seiner Unaufgeräumtheit der Fakten- und Zeugenlage in der Vermisstensache Jonny Röbel durchaus entspricht.
    Auf dem Weg ins Präsidium ruft Manni im Krankenhaus an. Sein Vater könne nicht sprechen, berichtet die Stationsschwester. Seine Mutter sei bei ihm und werde Manni zurückrufen. Nur Augenblicke später dringt ihre Stimme aus der Freisprechanlage ins Wageninnere, das von Minute zu Minute enger und stickiger zu werden scheint, eine ideale Brutstätte für sein schlechtes Gewissen.
    »Dein Vater liegt im Sterben. Diesmal ist es wirklich ernst, Manni. Komm her und versöhn dich mit ihm, solange es noch geht.«
    »Ich kann nicht. Ich arbeite. Ich muss diesen Jungen finden. Ich bin auf dem Weg zu einer Zeugenbefragung.«
    »Bitte, Manni. Gib den Lebenden eine Chance. Nicht nur deinen Toten.«
    Sie beginnt zu weinen. Er drückt sie weg.
    Die Zeugin sitzt im Vernehmungszimmer und nippt an einem Glas Mineralwasser. Carmen Vogt, eine Frau Ende 40 , Coinhaberin eines Reisebüros, das auf Städtereisen spezialisiert ist. Gepflegt, dezent schick, mit einem etwas zu harten Zug um den Mund. Ihr perlmuttfarben lackierter Zeigefingernagel tippt auf die Lokalseite des Kölner Stadt-Anzeigers, wo das Foto des karierten Koffers veröffentlicht ist.
    »Der gehörte einmal mir. Ich habe als Kind meinen Namen in den Deckel geschrieben. Carmen. Ein Kollege von Ihnen hat mir den Schriftzug schon auf einem Foto gezeigt. Es gibt überhaupt keinen Zweifel.«
    »Aber Sie haben den Hund nicht in den Koffer gelegt.«
    »Nein.« Sie lächelt nicht. Vielleicht fehlt ihr der Sinn für Ironie.
    »Wann haben Sie den Koffer zuletzt gesehen?«
    »Das ist Jahre her. Er stand, soweit ich mich erinnere, immer auf dem Speicher in meinem Elternhaus, in Frimmersdorf.«
    »Wer kann ihn von dort entfernt haben?«
    »Meine Mutter sagt, sie habe ihn auf den Sperrmüll getan, wann genau, weiß sie nicht mehr. Letztes Jahr irgendwann. Sie ist schon alt.«
    »Wir müssen mit Ihrer Mutter sprechen.«
    Einen Augenblick lang wirkt Carmen Vogt wie ein ertapptes Kind. »Ist das wirklich nötig? Sie ist manchmal schon etwas wirr und ängstigt sich leicht. Mit Sicherheit ist sie keine

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