Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
Vom Netzwerk:
der hinteren Bankreihen. Der Turnschuhkommissar blättert in einem Notizblock.
    »Ist dir vielleicht noch was eingefallen, was uns helfen könnte, Jonny zu finden?«
    Tim schüttelt den Kopf.
    »Deine Cousine Ivonne geht in Jonnys Klasse. Habt ihr euch über sie kennen gelernt?«
    »Nein, durch die Schach-AG.«
    »Sind Ivonne und Jonny befreundet?«
    »Nein.«
    »Wir hatten über das Indianerlager gesprochen. Jonny hat sich drauf gefreut, hast du gesagt.«
    »Ja.«
    »Warum warst du eigentlich nicht auch in dem Indianerclub?«
    »Weiß nicht, ich mag das nicht so.«
    »Was denn nicht, Tim?«
    »Weiß nicht.«
    »Findest du das vielleicht doof, Indianer zu spielen?«
    »Nein, das nicht.«
    »Und an Jonny liegt es auch nicht.« Keine Frage, eine Feststellung.
    Jonny hatte ihn mal gefragt, ob er mitkäme, aber die Vorstellung, in einem Zelt mit lauter fremden Kindern zu schlafen – nein, das konnte er nicht, selbst wenn Jonny dabei war.
    »Warum wolltest du nicht mit deinem Freund Indianer spielen, Tim?«
    »Wir haben doch Indianer gespielt, nur eben nicht im Lager.«
    »Weil du da nicht hin wolltest. Woran lag das? An den anderen dort?«
    »Ich wollte da einfach nicht hin.«
    »Aber Jonny wollte. Warum er und nicht du, wenn ihr doch so gut befreundet seid, Tim?«
    Tim starrt auf das Schulpult. DOLLING DU SCHLAMPE, hat jemand darauf geschrieben.
    »Oder wollte Jonny in Wirklichkeit gar nicht mit seinem Vater in dieses Indianercamp?«
    DOLLING DU SCHLAMPE.
    »Weißt du, Tim, ich habe den Eindruck, du hast vor irgendetwas Angst. Jonny hatte auch Angst, an dem Tag, an dem er verschwunden ist. Meinst du nicht, du kannst mir ein bisschen vertrauen, damit wir deinen Freund finden?«
    »Jonny hat keine Angst, so ist er nicht!«
    Der Turnschuhkommissar fährt sich mit der Hand durchs Haar, eine lässige Geste, aber sein Blick ist alles andere als das.
    »Von mir aus: Jonny hat keine Angst. Aber du, Tim, du hast Angst. Vor etwas im Indianerlager? Im Wald? Hier in der Schule? Wovor?«
    Die Fragen sollen aufhören, die Blicke, alles soll aufhören. Die Keyser weiß noch nichts von Tims schwarzem Bild mit den unsichtbaren Fischen, sonst hätte sie bestimmt schon was gesagt. Der Tiefseeangler trägt auf seiner Stirn eine Art Antenne, deren Spitze nur leuchtet, wenn er Beute anlockenwill. Wenn er will, schwebt er unsichtbar in der Schwärze. Der jugendliche Tiefseeangler wächst in einer Gelatineschicht auf, damit er größer wirkt, falls ihn Feinde trotz der Dunkelheit finden. Schwärze fließt durch die Gelatine und den Fischkörper hindurch, so sieht das aus. Vollkommene, schützende, wohltuende Schwärze.
    »Tim, hast du meine Frage nicht gehört? Wovor hast du Angst?«
    Das Foto vom Tiefseeangler ist das einzige Bild aus seinem Buch, das Tim nicht zerschnitten hat. DOLLING DU SCHLAMPE. Bald lassen sie dich in Ruhe. Jonny, du Verräter.
    »Ich glaube, es ist besser, wenn Sie Tim in Anwesenheit seiner Eltern weiter befragen«, meldet sich die Keyser zu Wort.
    Nicht das, nicht auch noch das. Tim hebt den Kopf.
    »Jonny wollte nach Radebeul.«
    Der Kommissar guckt ihn an, als sei das nun wirklich keine Neuigkeit.

    Heulen, Brummen, das Sirren von Propellern. Judith dreht sich auf die Seite. Es ist kalt in der Blockhütte. Sie zieht den Schlafsack enger um sich. Das Brummen hört nicht auf. In der Nacht gab es dieses Brummen nicht, in der Nacht gab es überhaupt kein von Menschen gemachtes Geräusch, außer ihrem Atem. Lautlos sind sie über den schwarzen See geglitten, der die Sterne spiegelte. Wein am Feuer, Davids Arme, der Geruch seiner Haut, der Gesang der Eistaucher. Vergiss das nicht.
    Das Brummen entfernt sich, wird Wirklichkeit. Mit einem Ruck setzt Judith sich auf. Sie ist allein, David ist nicht da. Durch ein schmales Fenster sickert bleiernes Morgenlicht. Das Brummen ist das Startgeräusch eines Flugzeugs, was absurd ist, was nicht sein kann. Judith reißt den Schlafsack auf, kommt auf die Beine, stolpert ins Freie. Es riecht nach verbranntem Holz und ganz leicht nach Kerosin. Der bleiche Steg ist leer, draußen auf dem See hebt gerade Davids Cessna ab. Judith rennt auf den Steg. Das Wasserflugzeug gewinntstetig an Höhe, zieht eine Schleife und verschwindet hinter den Wipfeln.
    Wie benommen sieht sie ihm nach. Wie unter Drogen, wie unter Schock, unfähig zu begreifen. Charlotte, ist ihr erster Gedanke. Charlotte hat unser Flugzeug geklaut. Aber wo hätte Charlotte das Fliegen gelernt, was sollte sie mit dem Raub

Weitere Kostenlose Bücher