Unter dem Eis
Verbrecherin.«
»Vielleicht hilft es ihr, wenn Sie mitkommen.«
»Jetzt sofort? Unmöglich. So kurz vor Ferienbeginn ist im Geschäft die Hölle los. Last Minute, ein schrecklicher Trend. Aber was soll man machen, die Kunden …«
»Ich brauche Namen und Adresse Ihrer Mutter.« Manni hat keine Lust, sich weitere Ausflüchte anzuhören. Ausflüchte, Halbwahrheiten, Probleme. Er notiert die Adresse, die Carmen Vogt ihm widerstrebend diktiert. Ein Verhör mit einer verwirrten alten Frau, ihm bleibt auch nichts erspart. Aber der Koffer ist eine Spur, und Thalbach erwartet, dass er sich um diese Spur kümmert. Und Carmen Vogt hat Recht, die Schulferien stehen bevor. Alle seine Zeugen werden bald in den Urlaub fahren. Eine Katastrophe.
Zu wenig Zeit. Zu wenig Zeit zum Schlafen, zum Denken, zum Abarbeiten der Fragen auf seiner Liste. Er muss mit diesem Tim Rinker sprechen, egal was Thalbach angeordnet hat. Der Junge muss einfach irgendetwas wissen. Tims Cousine Ivonne Rinker geht in Jonnys Klasse. Viktor, der Sohn des Indianerchefs Petermann, auch. Warum hat Häuptling Petermann verschwiegen, dass sein Sohn und Jonny Klassenkameraden sind? Auch das muss geklärt werden. Und vor allem muss Manni das jetzt sofort Kollegin Petra Bruckner mitteilen. Er verabschiedet Carmen Vogt und wählt die Handynummer seiner Kollegin. Die alte Frau Vogt wird schon nicht weglaufen, er wird auf dem Weg nach Frimmersdorf einen Zwischenstopp in Jonnys Schule einlegen. Manni drängt denGedanken an seinen Vater beiseite. Später. Abends. Eins nach dem anderen.
Es klopft an der Tür, Carmen Vogt steht erneut vor ihm. »Bitte sagen Sie meiner Mutter nicht, dass ich bei Ihnen war.«
»Das wird sich kaum vermeiden lassen.« Manni steht auf. Frauen und ihre Heimlichkeiten. Frauen und ihre emotionalen Abgründe. Der Koffer ist ein Puzzlestück, ein winziges Bausteinchen, und selbst das macht noch Probleme. Ein Durchbruch fühlt sich anders an. Ganz anders. Er muss sich diesen Petermann noch mal vorknöpfen. Und wo zum Teufel steckt Frank Stadler?
Tim weiß nicht, wo er hin soll, als es endlich zur Pause läutet. In sein Versteck am Zaun auf keinen Fall, nie wieder kann er dorthin, nicht nach dem, was sie dort mit ihm gemacht haben. Chemielehrer Mohr hat Pausenaufsicht. Tim versucht sich in seiner Nähe zu halten, ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen. Viktor und Ivonne hocken mit Ralle auf der höchsten Stufe des Freiluftatriums. Viktor hat den Arm über Ivonnes Schulter gelegt, seine Hand baumelt lässig vor ihrer Brust, beinahe sieht es so aus, als berühre er sie. Davon abgesehen ist er ganz in sein Gespräch mit Ralle vertieft, was Ivonne nicht zu stören scheint. In ihren Ohren stecken iPod-Kopfhörer, sie lässt Kaugummiblasen zerplatzen und ist versunken in den Anblick ihrer Fingernägel.
Jetzt haben sie Tim entdeckt, schauen zu ihm runter, fangen an zu grinsen. Ralle deutet mit gespreizten Fingern ein Telefongespräch an. Viktor hebt die Hand, die vor Ivonnes Brust baumelt, ein Stückchen, und streckt seinen Zeigefinger aus. Ganz sacht bewegt er ihn hin und her, hin und her, so wie sie das vorgestern mit Tims Penis, Pimmelmann, Schwanz – nein, er will und kann das nicht denken, will sich nicht erinnern. Hitze schießt ihm ins Gesicht. Er dreht sich um, sieht Lukas, hört sein Lachen, beginnt zu rennen, weg muss er, nur weg.
Eine Hand packt ihn an der Schulter. Tim schlägt um sich, der Griff wird fester.
»Tim, he, Tim, was soll das, wo willst du denn hin?«, fragt die Stimme von der Keyser. »Die Polizei hat noch mal ein paar Fragen an dich. Komm bitte mit.«
Ihre Blicke brennen sich in seinen Rücken, er hört Lukas’ Lachen, er weiß, dass Viktor seinen Zeigefinger immer noch bewegt. Wie die zum Tode Verurteilten auf dem Weg zum Schafott fühlt er sich, die in dem Geschichtsbuch zur Französischen Revolution abgebildet sind. Nur weiß er, dass es für ihn nicht so schnell vorbei sein wird.
Die Keyser führt ihn in ein leeres Klassenzimmer, auf dem Flur stehen der Turnschuhkommissar und seine dicke Kollegin, die Raubfischfrau. Es sieht so aus, als ob die beiden über irgendwas streiten, aber sobald sie Tim entdecken, verstummen sie und der Turnschuhkommissar eilt ihm entgegen.
»Tim, hallo. Wir sind das letzte Mal unterbrochen worden. Komm, wir setzen uns noch mal zusammen.«
Die Raubfischfrau macht Raubfischaugen, aber sie kommt nicht mit ins Klassenzimmer. Die Keyser zieht die Tür hinter ihnen zu und setzt sich in eine
Weitere Kostenlose Bücher