Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)
machen muss. Familien werden zu Firmen, in denen jeder Chef sein will. Ein großes neoliberales Projekt zur Verkümmerung des Menschen.
Heute fehlt mehr denn je die Freiheit, sich gegen eine Karriere zu entscheiden. Wir wissen, wie stark schon kleine Jungs unter der Frage ‹Was willst du denn mal werden?› zu leiden haben. Es ist die Vorbereitung auf ein Leben, in dem jeder nach Länge, Höhe, Breite taxiert und am Ende immer aussortiert wird.»
Ralf Bönt, der nachdenkliche Vater zweier Söhne, hat für das intensive Zusammensein mit seinen Kindern seine außergewöhnliche Physikerkarriere beendet. Ich habe ihn zum Erscheinen seines Buches «Das entehrte Geschlecht. Ein notwendiges Manifest für den Mann» interviewt. Er sagte mir:
«Frauen behandeln Männer wie Analphabeten in Sachen Kindererziehung – und solange Männer keine Forderungen stellen, wird das so bleiben. Wenn mein Kind in meinen Armen einschläft, entspannt sich mein Körper, und ich kann die Welt da draußen für diesen Moment vergessen. Das will ich erleben. Stattdessen aber gehen Männer ins Büro, weil sie zu Hause stören, versuchen Helden zu sein und machen ihre Gesundheit kaputt. Männer müssen die Chance bekommen, sozial halbwegs anerkannt zu Hause bleiben zu können. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist für den Mann aber nicht schwierig wie für die Frau. Sie ist unmöglich. Sie ist nicht mal Thema. Komisch, dass Männer nie aufbegehrten, dass sie nie ihre eigenen Ansprüche auf Freiheiten formulierten und sagten: Okay, nehmt, was ihr wollt, und gebt, was ihr habt. Dass sie nie empört streikten. Gerade stellte eine schwedische Studie fest, dass Männer, die sich nach der Geburt ihres Kindes mehrere Monate freinehmen, länger leben. Nach zwanzig Jahren ist die Mortalität um fünfundzwanzig Prozent geringer. Bei vielen hunderttausend in Deutschland geborenen Kindern sind das schon wirklich sehr viele Lebensjahre in sehr vielen Männerleben, über die hier geredet beziehungsweise nicht geredet wird. Männer müssen sich artikulieren. Und da das als unsexy gilt und es sonst keiner tut, mach ich das jetzt eben. Ich bin Schriftsteller, ich darf das. Aber der Müllkutscher, der sich manchmal wünscht, den Tag mit seinen Kindern im Mutter-Kind-Café mit Indoor-Sandkasten zu verbringen, der darf es nicht.»
3. September
Zustand: Mein Buch «Endlich!» erscheint. Ich halte es begeistert im Arm, betrachte es von vorne und von hinten. Alles dran, alles drin, sieht super aus. Ich bin sehr stolz! Mein zweites «Baby» in diesem Jahr. Morgen Abend bin ich zur Talkshow von Markus Lanz eingeladen. Was soll ich anziehen? Na ja, viel Auswahl habe ich nicht. Mein derzeit bevorzugter Stil: weichfallende Tuniken über bequem sitzenden Leggins, in denen sich mein Bauch frei entfalten kann. Sehe echt scheiße aus. Werde also durch Witz, Schlagfertigkeit und Wortgewandtheit von meinen äußerlichen Mängeln ablenken müssen. Schwierig, mit Stilldemenz und ohne gewohnten Wortschatz. Bin sehr aufgeregt.
Gewicht: Ach, was sind denn schon Äußerlichkeiten?
I ch war schon in einigen Talksendungen zu Gast. Aber so eine schlechte Stimmung wie bei «Markus Lanz» habe ich noch nie erlebt. Alle, abgesehen vom Moderator, sind gestresst und geben sich keine Mühe, das zu verbergen.
Die Redakteurin, die mich betreut, ist sichtlich genervt von mir und meiner kleinen Reisegruppe – Schlomenberger und meine Freundin Kathrin, die netterweise während der Sendung auf ihn aufpassen will.
Ich hatte schon bei der Vorbesprechung am Telefon gesagt: «Ich bin kein zuverlässiger Gast, denn ich stille noch. Ich bringe mein Baby mit, und wenn es die Sendung nicht durchhält und Hunger bekommt, müssen Sie mich aus der Aufzeichnung rausholen.»
Das sei überhaupt kein Problem, hatte man mir versichert. Aber anscheinend hat die Redakteurin noch nie ein echtes Baby gesehen. Sie ist nervös, sie macht mich nervös.
Ich sitze in meiner Garderobe und stille mein Kind. In fünf Minuten geht es los. Ich sage noch mal zu Kathrin und zu der unangenehmen Redakteurin: «Wenn er schreit, müsst ihr mich rausholen.»
Dann zupfe ich mein selbstredend weitfallendes Kleid zurecht, checke, ob sämtlich Brüste und Stilleinlagen sich an Ort und Stelle befinden, und gehe ins Fernsehen. Nicht auszudenken, würde mir dort vor laufenden Kameras eine entfesselte Stilleinlage übers Gesicht krabbeln oder zwischen meinen Füßen auf den Studioboden platschen.
Denn ja, auch ich
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