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Unter dem Räubermond

Unter dem Räubermond

Titel: Unter dem Räubermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jewgeni Lukin
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sich schon versammelt«, erklang hinter der Tür Aitschas Stimme. »Sie warten auf euch.«
    »Wozu?«, fragte Ar-Scharlachi, während er sich den weißen Kittel überwarf, auf dem die Blutflecken Kahirabs eingetrocknet waren, und den Schleier zurechtrückte.
    »Na … wir wollten doch beraten … gestern haben wir ja nicht beschlossen …«
    Ar-Scharlachi riss die Tür auf, dass Aitscha zurückschreckte. »Beraten? Es gibt nichts zu beraten. Ich habe alles schon selbst entschieden. Wir fahren zum Meer.«
    Aitscha blinzelte.
    »Ja, aber … die Männer …«
    »Du kennst meine Regeln«, sagte Ar-Scharlachi langsam und deutlich, während er ihm in die Augen blickte. »Wer nicht im Schiff fahren will, geht zu Fuß. Wenn das jemand vergessen haben sollte – geh, und erinnere ihn daran.«
    Den ganzen Tag über wehte ein stetiger, kräftiger Wind dem Samum geradewegs aufs Horn. Sie mussten kreuzen. Die silbrigen Rohre zur Rechten kamen bald ganz nahe, bald wichen sie zum Horizont zurück und wurden wieder zu einem doppelten glänzenden Faden. Gegen Abend war die Mannschaft müde und zu Tode erschöpft, doch das war vielleicht sogar gut. Wenn die Kräfte nur noch ausreichen, um sich ins Bett oder in die Hängematte zu legen, hat man keine Lust mehr zu Gesprächen. Dennoch ließ die Unzufriedenheit nicht nach.
    »Das Kamel soll dich treten«, blubberte der riesige Gorcha starrsinnig, der kaum noch die Zunge bewegen konnte. »An Lako erinnerst du dich? Der ist damals nicht mit Scharlach gefahren, hatte Angst vor den Hämmern – und was ist aus ihm geworden?«
    »Ja, die Hämmer«, antwortete man ihm widerwillig. »Aber dagegen das Meer … So ein Hammer – weißt du, entweder er zermalmt dich, oder er zermalmt dich nicht. Aber das Meer – und fertig! Das Meer ist der Tod …«
    »Fürchtest du etwa den Tod?«
    »Kommt darauf an, was für einen Tod … Wenn sie aus diesem Meer hervorkriechen … blau, schleimig … und dich mit kalten, hörst du, mit kalten Fingerchen …«
    »Das ist doch alles Schwindel. Sie kriechen … Wer kriecht denn? Was sagen sie im Tempel? Wo ist das Totenreich? Auf dem Mond. Na also …«
    »Auf dem Mond sind doch die Ahnen! Und dann noch alle möglichen Helden … Aber die kleineren Leute – die kommen ins Meer …«
    »Was winselt ihr denn, was winselt ihr denn?«, mischte sich eine schläfrige Stimme ein. »Er hat uns doch verzaubert! Also gibt’s nichts zu fürchten …«
    »Aber man kann doch nicht jeden verzaubern! Es gibt welche, bei denen wirkt es nicht. Sagen wir, Scharlach werden die Toten bestimmt nicht anrühren. Aber unsereins …«
    »Seid ihr endlich still, ihr Warane, oder nicht?«, schrie man aus der finstersten Ecke. »Es wird einem auch so schon ganz schlecht, und dann noch die …«
    »Was habe denn ich damit zu tun?«, empörte sich Gorcha. »Sieh dich vor … Weißt du, was es für einen ›Waran‹ setzt? Sag du mir bloß noch mal was von wegen ›Waran‹!«
    Er murrte noch lange, während er sich beruhigte. Die anderen, die Gorchas cholerisches Wesen und seine harten Fäuste kannten, verstummten lieber.
    »Was will ich denn sagen?«, begann er etwas später erneut. »Ich habe schon lange gemerkt: Wenn sich einer von Scharlach trennt, dann ist er erledigt … Was? Nein? Der Sandsturm, was? Er hat ja alle erwischt, uns wie die Nacktfressen. Aber wir – das sind wir! Lebendig. Liegen da, wetzen die Zungen … Und für den ›Waran‹ kriegst du von mir eine!«, blaffte er, wieder gekränkt, und stützte sich auf den Ellbogen, um nach dem Schuldigen Ausschau zu halten. »Ich verpass dir so einen Waran, dass du vergisst, wie man den ausspricht, den Waran!«
    An Deck begannen Leute zu laufen, machten sich zu schaffen, die Stimme Aitschas erklang. Der Samum bereitete sich auf die nächste Wende vor.

35
    Die, mit denen sie kämpfen
    G egen Abend flaute der Wind etwas ab. Ar-Scharlachi befahl anzuhalten und der ganzen Mannschaft Rast zu gönnen. Die Gegend hatte sich nicht im Geringsten verändert: dieselben Sandwogen bis zum Horizont links vom Schiff, rechts dieselben endlosen Rohre. Unwillkürlich hatte man den Eindruck, dass der Samum den ganzen Tag kreuzte, ohne einen Schritt nach Süden voranzukommen.
    Die Stimmung war bei allen unruhig, die Unsicherheit des Anführers übertrug sich auf die anderen. Natürlich hätte Ar-Scharlachi ein versteinertes Gesicht machen, Leute an die Antriebstrommel legen und die ganze Nacht hindurch weiterfahren können, doch er wusste noch

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