Unter dem Safranmond
In den Nachklang des Geläuts, dessen Vibrationen noch einige Sekunden lang im Raum schwebten, schob sich das pumpende Zischen einer Lokomotive. Die Linie der Great Western Railway durchschnitt den Park von Sydney Gardens, auf den die Vorderseite des Hauses hinausging. Jene Eisenbahngesellschaft, mit der einen Tag zuvor auch Maya und Ralph aus London angereist waren, in die Stadt am Avon, umgeben von sieben Hügeln, zentriert von der berühmten spätgotischen Abteikirche und durchkämmt von georgianischen Reihenhäusern. Steinerne Brücken überspannten die Gleise der Eisenbahn, in einen tiefen, gemauerten Graben gebettet, damit den Kurgästen nicht die schöne Aussicht verdorben wurde, wenn sie gegen Eintritt über die Kieswege zwischen den Blumenrabatten und Grünflächen entlangflanierten, sich auf den weiß lackierten Stühlchen niederließen, um im klassizistischen Bau des Sydney Hotels Erfrischungen zu bestellen oder sich am Pavillon trafen, in dem Musikkappellen aufspielten. Die Besucher spazierten durch die Laub- und Nadelwäldchen, in deren Ästen Eichhörnchen herumsprangen, bewunderten die zwischen den Bäumen verborgenen Höhlen und Wasserkaskaden, wandelten über die zierlichen, gusseisernen Brücken in chinesischem Stil, unter denen das grün schillernde Wasser des Kanals hindurchfloss, der die Flüsse Avon und Kennet miteinander verband, oder irrten spielerisch gegen ein paar Pence extra durch das Labyrinth aus Buchsbaumhecken. London hatte Vauxhall Gardens für Promenaden bei Tag und für abendliche, lauschige bis lärmende Vergnügungen im Lichterglanz. Und Bath, seit der Römerzeit die Stadt der heilkräftigen, heißen Quellen und seit der Moderne zudem die der Spieltische, eben Sydney Gardens.
Mayas Blick fiel auf ein Tischchen im Winkel zwischen Fenster und Bett, darauf ein Tablett, beladen mit Teegedeck, Sahnekännchen, Zuckerdose und einer bauchigen Kanne unter liebevoll bestickter Stoffhülle. Eine Miniaturausgabe Letzterer behütete den Eierbecher, und der Teller mit einem Stapel braungoldener Toastscheiben, ein Glasschälchen mit abgehobelten Butterflocken und je eines mit Orangenmarmelade und Honig komplettieren das Frühstück, das einen verlockenden Duft nach Heimat und Erinnerung verströmte. Maya lächelte versonnen. Die gute Tante Elizabeth! Es gab wohl niemanden, der ähnlich großzügig und derart gütig war wie sie. Bei Tante Elizabeth wurde man sogar noch mit offenen Armen aufgenommen, nachdem man sie Monate ohne ein geschriebenes Wort gelassen hatte und dann völlig überraschend vor der Tür stand.
Sie setzte sich auf, schwang die Beine aus dem knarzenden Bett und zog das Tischchen näher zu sich, hantierte mit Porzellan und Silber und seufzte wohlig auf, als sie den ersten Schluck Tee trank. Herb, fast bitter, mit viel kühler Sahne und nur wenig Zucker, wie sie ihn immer am liebsten getrunken hatte. Keinen viel zu süßen Kaffee wie in Aden. Vorbei. Ich muss nie wieder dorthin zurück. Aber auch keinen aus mit einem Stein frisch zermahlenen Bohnen, über einem Lagerfeuer gekocht und mit Ingwerpulver gewürzt. Vorbei. Maya umfasste die Tasse mit beiden Händen und legte sie gegen ihr Brustbein, um den Knoten dahinter zu wärmen und vielleicht zu lösen. Das leise Klicken des Türschlosses ließ sie aufblicken und ein Lächeln hinüberschicken. »Guten Morgen.«
»Guten Morgen, Liebes«, gab Tante Elizabeth zurück und schob nach Kopf und Oberkörper nun auch ihre bauschigen Röcke durch den Türspalt. »Ich wollte vor dem Kirchgang nur kurz nach dir sehen. Aber wenn du jetzt schon auf bist …« Sie machte Anstalten, ihr Gesangbuch auf der Kommode neben der Tür abzulegen und die gehäkelten schwarzen Handschuhe abzustreifen.
»Du kannst ruhig gehen. Ich werde hiermit eine Zeit beschäftigt sein.« Vergnügt deutete Maya auf ihr Frühstück.
Tante Elizabeth musterte sie prüfend, und obwohl ihre Miene Zufriedenheit ausdrückte, fragte sie: »Wie fühlst du dich?«
Maya neigte den Kopf hin und her, nickte schließlich, während sie tief ausatmete. »Ganz gut. Ein bisschen«, sie rieb sich in einem großen Kreis über den Bauch, dann von der Kehle quer über Schlüsselbein und die Schulter, die sie sachte nach hinten durchdrückte, »angespannt und verquer.« Als schiene ihr Becken verschoben, der Brustkorb leicht gequetscht. Nicht verwunderlich nach den vielen Meilen, die sie zu Pferd, an Bord eines Schiffes, per Eisenbahn und in der Kutsche zurückgelegt hatte. »Stammt
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