Unter dem Safranmond
in ihrem Magen sich sogleich Wärme ausbreitete, die von dort aus bis in ihre Finger und Zehen weiterwanderte. Sie hatte geglaubt, ihr Herz würde aufhören zu schlagen, als heute, mitten am Tag und ohne Vorwarnung, ihre Nichte und deren Ehemann vor der Eingangstür des schmalen Reihenhauses am Sydney Place No. 4 gestanden hatten, nach Monaten ohne ein Lebenszeichen und beide in denkbar schlechter Verfassung. Doch nach dem ersten Schrecken hatte Tante Elizabeths Pragmatismus schnell wieder die Oberhand gewonnen, hatte sie Betty ein heißes Bad bereiten lassen, Ralph in den Salon gescheucht und Maya erst in die Wanne, dann in eines ihrer rüschenumwölkten Nachthemden gesteckt und schließlich ins Bett verfrachtet, wo diese augenblicklich eingeschlafen war. Nun erst hatte sie die Muße, Ralph, den Mann ihrer Nichte, eingehend zu betrachten.
Seit sie den Lieutenant zum ersten Mal gesehen hatte – auch schon wieder mehr als ein Jahr her, Grundgütiger, die Zeit vergeht wie im Flug! –, hatte er sich erschreckend verändert. Schmal, fast hager war er geworden, das Gesicht sonnenverbrannt, die Lippen aufgeraut, als sei er einmal durch die Sahara und wieder zurück gekrochen. Auch Maya hatte abenteuerlich ausgesehen; in einem schlecht sitzenden Kleid minderer Qualität und äußerlich deutlich von körperlichen Strapazen gezeichnet. Aber vielleicht sieht man so aus, wenn man geradewegs aus dem wilden Arabien zurückkommt … Noch mehr hatte Tante Elizabeth erschüttert, was sie in den Gesichtern der beiden lesen konnte: Erschöpfung vor allem, aber auch die Spuren von Ereignissen gewaltiger Dimension, die sie wohl erlebt und die sie in ihren Grundfesten ins Wanken gebracht hatten. Vor allem Mayas Augen hatten ihre Tante erschreckt: groß und geweitet, blickten sie leer – als suchten sie etwas, fänden aber nichts, woran sich ihr Blick festhalten könnte. Kein Wunder, dass sie zuerst zu mir wollte – es würde Gerald und Martha das Herz brechen, sie so zu sehen! Sie muss also noch einigermaßen bei Verstand sein … »Möchten Sie mir nicht endlich erzählen, was Ihnen beiden widerfahren ist?«
Als bräuchte es einige Zeit, bis ihre Frage zu Ralph durchgedrungen war, regte er sich lange nicht, bis er schließlich tief durchatmete und sich mit den Händen über das Gesicht rieb. »Tut mir leid, Mrs. Hughes – darüber darf ich nicht sprechen. Befehl von oben.«
Tante Elizabeth sog hörbar Luft durch die Nase ein. »Mein lieber Ralph – ich darf Sie doch ›Ralph‹ nennen, nicht wahr? Sie gehören doch inzwischen zur Familie … Militärische Geheimhaltung hin oder her: Wer, denken Sie, sitzt Ihnen hier gegenüber? Genau, eine Lady höheren Alters, die ihre Tage mit Teetrinken, Häkeln, Stricken und in ihrer Kirchengemeinde verbringt. Was, glauben Sie, geschähe, wenn ich mit Ihren ach-so-brisanten Geheimnissen zur Tageszeitung ginge, in der gesamten Stadt Gerüchte streute oder gar bei Ihrer Majestät selbst damit vorspräche, um zu petzen? Hm? Erraten! Keine Menschenseele würde mir davon auch nur ein Sterbenswörtchen glauben!« Sie füllte sich erneut ihr inzwischen leeres Glas und stellte die Karaffe unsanft wieder ab. »Meinen Respekt haben Sie für Ihren Schneid, mit meiner Nichte kurzerhand durchgebrannt zu sein. Aber sie mir in einem derartig bemitleidenswerten Zustand zurückzubringen – dafür schulden Sie mir eine Erklärung! Also, heraus mit der Sprache!«
Selbst ein Colonel Coghlan oder ein Lieutenant Playfair hätten wohl unter dieser donnernden Ansprache zumindest instinktiv den Kopf eingezogen. Wie sollte dann ein Lieutenant Garrett länger die Wahrheit für sich behalten? Also erzählte er, beginnend bei Mayas Entführung und Coghlans Befehl, sie zurückzubringen, von seiner Reise quer durch das arabische Hinterland, bis zu dem Moment, als Maya von jenseits der alten Weihrauchstraße auf ihn zugeritten gekommen war und er sie endlich wieder in seine Arme schließen konnte. Tante Elizabeths Augenbrauen zogen sich immer höher, je länger er sprach, fast bis hinauf zum Rand ihres Witwenhäubchens. Und hätten seine Schilderungen nicht haargenau zu dem gepasst, was sie in seinem und Mayas Gesicht gelesen hatte – sie hätte ihm keine Silbe davon geglaubt. Was beneidete sie die Männerwelt im Allgemeinen und ihren Bruder im Besonderen um den Halt, den ein Pfeifenkopf zu bieten vermochte! Um das Auskratzen, Neustopfen, umständlich Anzünden und das konzentrierte Paffen, das einem erlaubte, sich
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