Unter dem Safranmond
sicher noch von der langen Reise und legt sich bald.« Sie zögerte. »Hat … hat Ralph dir erzählt, was …« Sie verstummte, als sie sah, dass ihre Tante bestätigend kurz die Lider schloss. Biss sich auf die Lippen, drehte in ihre Gedanken vertieft die Tasse in den Händen.
»Ich habe deinem Vater telegraphiert«, erklärte Tante Elizabeth nach einer kleinen Pause. »Sie reisen übermorgen an. Deine Eltern und Angelina.«
Maya nickte, runzelte dann die Stirn, als sei ihr plötzlich etwas eingefallen. »Welchen Tag haben wir heute?«
»Sonntag, den zweiundzwanzigsten Juli.« Unter Mayas irritiertem Blick fügte sie rasch hinzu: »Im Jahre des Herrn achtzehnhundertfünfundfünfzig. Und exakt«, sie hob den Zeigefinger unter dem neu einsetzenden Läuten der Kirchenglocken, »zehn nach elf.« Maya kicherte in ihre Tasse hinein, die sie wieder angesetzt hatte. Ihre Tante betrachtete sie liebevoll. »Ich bin froh, dass du dich wieder ein wenig besser fühlst.« Das Korsett unter dem Trauerkleid knirschte leise, als sie tief durchatmete, das Gesangbuch unter den Arm klemmte und ihre Handschuhe an den Gelenkbündchen stramm zog.
»Betty und ich werden in einer Stunde aus St. Mary’s zurück sein.«
Die Tür schloss sich, und das Lächeln, das die Fröhlichkeit ihrer Tante auf Mayas Gesicht gezaubert hatte, verschwand, wich einem grüblerischen Ausdruck. Sie setzte die Tasse ab, bestrich eines der gerösteten Brote mit Butter und kaute gedankenverloren daran herum.
Zweiundzwanzigster Juli … Es war Mai gewesen, als sie im Hause Dr. Steinhäusers in Aden Richards Brief gelesen hatte. Der achte Mai, glaubte sie sich zu erinnern, vielleicht ein Tag früher oder später. Aber weshalb war dann erst Juli, wo sie doch so lange fort gewesen war? Maya dachte noch einmal alles von vorne bis hinten durch, zählte im Kopf die Tage nach, doch es schien keinen Sinn zu machen. Achtlos warf sie den Toast auf den Teller zurück und ging um das Bett herum zu dem kleinen Sekretär, kramte in dessen Fächern herum und suchte Tinte, Papier und Feder hervor. Dann ließ sie sich auf den mit fadenscheiniger Petit-Point-Stickerei bezogenen Hocker fallen und schrieb hastig alle Daten und Zeiträume nieder, an die sie sich noch erinnerte, versuchte die Ereignisse in chronologischer Reihenfolge zu ordnen. Wieder und wieder rechnete sie nach, aber das Ergebnis blieb dasselbe, auch wenn Maya den Zahlen nicht trauen wollte. Ein Jahr war sie in Aden gewesen, bevor Rashad und seine Männer sie entführt hatten. Etwas über eine Woche hatte die Reise nach Ijar gedauert. Und wenn sie die gemächliche Rückreise nach Aden abzog, jene gen England, blieben nur rund zwei Wochen übrig. Konnte sie tatsächlich nur so kurze Zeit im Palast von Ijar verbracht haben? Ihr kam es vor, als seien es Monate gewesen. Maya zweifelte an der Wahrheit der Zahlenkunst, ihren eigenen Rechenfähigkeiten, als sie, das Blatt in der Hand, zum Bett zurückwanderte und sich auf dessen Kante niederließ. Doch es änderte nichts daran: Zwei Wochen in Ijar. Und zwei Nächte in der Wüste …
Wie von selbst ballte sich ihre Hand zusammen, zerknüllte das Papier, so fest, dass die überdehnten Sehnen zu schmerzen begannen. Halt suchend wanderten ihre Augen im Zimmer umher. Typisch englisch eingerichtet, ein wenig altmodisch und verwohnt, war es Welten von dem entfernt, was Maya im Süden Arabiens gesehen und erlebt hatte. Als hätte sie jene Tage auf einem anderen Stern, in einem anderen Jahrhundert verbracht. In einem Raum ohne Zeit, wie in einem Traum. Aber ich habe nicht geträumt – es ist wirklich passiert … Von der plötzlichen Angst getrieben, den Verstand verloren zu haben, sah sie sich um, sprang auf, entdeckte ihre Reisetasche neben der Kommode, schlitterte auf nackten Sohlen über Teppich und Dielen hinüber. Auf den Knien kauernd ließ sie den Verschluss aufschnappen, zog mit hastigen Bewegungen den indischen Schal hervor, tastete seinen Saum ab, fummelte mit zitternden Fingern an einer seiner Ecken herum. Bis sie den Knoten gelöst hatte, den sie in ihrem Bungalow in Aden hineingeknüpft und fest zugezurrt hatte. Eine kleine Metallscheibe fiel heraus, prallte klirrend auf den Holzboden, kreiselte um sich selbst, rotierte schließlich unter hohem Klingen flacher und blieb liegen. Als müsste Maya fürchten, sie würde sich unter ihren Händen in Luft auflösen, nahm sie die Münze vorsichtig auf. Sie schluchzte laut auf, lachte gleich darauf, und wischte sich die
Weitere Kostenlose Bücher