Unter dem Safranmond
Tränen weg, damit sie sie klar sehen konnte: der Beweis dafür, dass sie dort gewesen war.
Sie vergrub ihr Gesicht im Stoff des Schals. Abgenutzt, zu heller Jade und Karamell ausgeblichen, roch er nicht mehr nach Ralph, wie anfangs, nachdem er ihn ihr übergeben hatte. Nur noch nach Sonne und Sand. Jonathan … Eineinhalb Jahre waren vergangen, seit sie aus Black Hall fortgegangen war. Die längsten eineinhalb Jahre ihres Lebens, und die bewegtesten. Rund fünfhundertfünfzig Tage und ebenso viele Nächte. Zu tausendundeiner hatte es nicht gereicht, auch wenn es sich so anfühlen mochte. Nur zwei Nächte …
Maya umklammerte die Münze von Himyar, ließ dazwischen immer wieder locker, schwankend in ihrem Aberglauben, daran haftete noch etwas von Rashad, das sie entweder über die Haut aufnehmen oder im Gegenteil mit ihrer Berührung erst recht vernichten konnte. Wo magst du jetzt sein, Rashad vom Stamm al-Shaheen? Was haben sie mit dir gemacht? Bist du noch am Leben?
Die ersten Tage des Rückwegs hatte Maya sich noch tapfer gezeigt, doch bereits an der Wasserstelle, an der sie mit Djamila gebadet hatte – Bist auch du noch am Leben, Djamila? Geht es dir gut? –, hatten die Erinnerungen sie wieder eingeholt. Auf jeder Station der Reise, ob Nisab, in der Sandebene von Al-Hadhina oder im Bilad ash-Shaitan . Am Pass von Talh und in Az-Zara, wo Ralph vor Erschöpfung und mit verbissenem Beschützerwillen in seinem roten Uniformrock den Sultan ebenso eigenmächtig wie erfolgreich mit militärischer Vergeltung der nahen Garnison gedroht hatte, ließe er sie nicht unverzüglich passieren – überall war Rashad neben Maya einhergeritten. Flüchtiger als eine Luftspiegelung, nicht greifbar, und umso schmerzhafter in seiner geisterhaften Anwesenheit. Bis nach Lahej verfolgte er sie, dessen Gärten und Felder sie jetzt erst zu Gesicht bekam, die Kaffeesträucher mit den roten Beeren und die Baumwollpflanzungen mit ihren Flaumbällen im Laub. Nach Aden, Suez, Cairo, Alexandria und ans Mittelmeer, und selbst hier in Bath, im Haus ihrer Tante, hörte sie seine raue Stimme, sein Lachen. Wie entfloh man einem Gespenst, das in einem selbst spukte?
Maya schüttelte heftig den Kopf, als könnte sie damit die Gedanken an ihn vertreiben, die unerträgliche Flut an Bildern und Gefühlen, die immer neu in ihr aufbrandete. Es hatte keinen Zweck. Sie würde Rashad niemals wiedersehen. Sein Land hatte ihn verschlungen, mit seinen seltsamen Sitten und Gesetzen, und würde ihn nicht mehr freigeben. Zwei Nächte, die nicht länger ihre Macht über sie ausüben durften. Denn was wogen schon zwei Nächte, verglichen mit dem Leben, das noch vor ihr lag?
Sie rappelte sich auf und verkroch sich wieder ins Bett, weil sie sich unvermittelt müde und krank fühlte. Was würde sie mit diesem Leben anfangen, für das Djamila und Rashad das ihre aufs Spiel gesetzt hatten? Nach Aden musste sie nicht zurück, das hatte Ralph ihr versprochen. Der schwarze Ring des Kraters hatte wie ein Nachtmahr auf ihr gelastet, noch unerträglicher, seitdem sie die Freiheit der Wüste gekostet hatte. Erstickender, seit so viel Wut und Schmerz und Trauer um verronnenes Glück in ihrem Körper, ihrer Seele tobten, sie unter deren Wucht zusammenzubrechen drohte, seit Ralph dafür gesorgt hatte, dass jede Sekunde jemand bei ihr war, damit sie nicht wieder allein zum Turm hinaufging und noch einmal verschwinden konnte. Womöglich war es besser so – ich weiß nicht, ob ich es ertragen hätte, noch einmal dort zu sein …
Ralph, der sie umhegte und mit Blicken, Gesten, Worten Abbitte leistete – jede Stunde, seit sie am Rande der Weihrauchstraße wieder zu ihm gestoßen war. Ach, die Briefe – ich habe viel mehr verloren in Arabien als diese Briefe … Und den sie doch nicht in ihrer Nähe ertrug, weil er nicht Rashad war; weil er ernsthaft zu bereuen schien, wie er sich ihr gegenüber verhalten hatte und sie damit fortwährend daran erinnerte, sich in der Wüste eines Betrugs an ihm schuldig gemacht zu haben, der ihr aber einfach nicht als ein solcher erscheinen mochte. Groß war ihre Erleichterung gewesen, als er ihr mitteilte, er beabsichtige, nach Gloucestershire weiterzureisen, sobald er ihre Bitte erfüllt und sie in Bath abgeliefert hätte, doch größer noch war ihre Scham, ihr Ekel vor sich selbst, dass sie so empfand. Aber ändern konnte sie es nicht. Vielleicht, mit der Zeit, wenn ich vergessen kann … Er würde seine Versetzung beantragen, möglichst
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