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Unter dem Schatten des Todes - Brack, R: Unter dem Schatten des Todes

Unter dem Schatten des Todes - Brack, R: Unter dem Schatten des Todes

Titel: Unter dem Schatten des Todes - Brack, R: Unter dem Schatten des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Brack
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zerborsten und drinnen lag der Plenarsaal in Schutt und Asche. Klara hatte genügend Bilder gesehen, um zu wissen, dass es ein wahres Höllenfeuer gewesen war, das dort gewütet hatte.
    Marinus van der Lubbe, der hilfsbereite, bescheidene Maurer aus Holland, war angeblich durch ein Fenster rechts vom Hauptportal in das Abgeordneten-Restaurant eingestiegen. Schauen wir uns das doch mal an. In den Berichten ist die Stelle des Einstiegs gut beschrieben. Ein Eisengeländer verhindert den direkten Zugang zum Erdgeschoss, dahinter geht es nämlich zwei Meter tief hinab in den Burggraben der Festung. Vergitterte Kellerfenster, Gitter auch im Untergeschoss. Und wer da hin will, muss zunächst über Stacheldraht klettern. Von dort unten nach oben ins Hauptgeschoss, das sind knapp fünf Meter, die soll der Brandstifter die Fassade hochgeklettert sein. Vor dem Fenster ist ein schmaler Balkon, genug Platz zum Stehen. Wenn man gutes Schuhwerk hat und einen anständigen Tritt, geht die Scheibe vielleicht schnell zu Bruch. Er soll ja schon draußen Streichhölzer angesteckt haben und dann mit den brennenden Anzündern ins Restaurant gesprungen sein. Gut, wenn man erst mal oben ist, kein Problem mehr. Aber wie gelingt es einem Halbblinden, ohne Hilfsmittel diese Mauer zu erklimmen? Da sind Fugen, aber viel zu schmal zum Festhalten. Über eine besondere Begabung als Fassadenkletterer bei van der Lubbe ist nichts vermeldet worden. Mit groben Schuhen und imWintermantel ist man nicht sehr wendig und geschickt. Seil und Enterkralle hatte er nicht dabei, von einer Leiter ganz zu schweigen. Hätte er sich nicht seine Klamotten zerfetzt beim Überklettern des Stacheldrahts, sich die Hände zerschnitten? Das Foto, das von ihm nach der Tat gemacht worden ist, zeigt keine derartigen Verletzungen, keine zerrissenen Hosenbeine, nichts.
    Gedankenverloren wandte Klara sich um und lehnte sich gegen das Eisengeländer. Der Holländer hatte behauptet, an dieser Stelle eingestiegen zu sein. Die Brandlegung begann in den Räumen des Restaurants. Aber wenn man da gar nicht hochkommt? Warum behauptet er dann, an dieser völlig unmöglichen Stelle eingedrungen zu sein?

    Graue Wolken am Himmel verteilten ebenso graue Schneeflocken in der hereinbrechenden Dämmerung. Ein kurzer Gang über Friedrichstraße und Leipziger Straße hatte sie ratlos gemacht. Das Leben ging einfach weiter, und wo auch immer das kämpferische Proletariat war, das angeblich den größten Teil der Berliner Bevölkerung ausmachte, hier war es kaum zu erahnen. Die Männer und Frauen in den gut geschnittenen Mänteln, die die funkelnden Auslagen der Schaufenster begutachteten, schienen von der sich ausbreitenden Nazi-Pest nicht beunruhigt. Begriffe wie »Widerstand« oder »Generalstreik« wirkten bedeutungslos in einer bunten Welt, in der Damen mit eleganten Hüten und Herren mit Lederhandschuhen und Gamaschen herumstreiften und nach Dingen Ausschau hielten, die sie nicht brauchten, sondern nur haben wollten.
    Klara fühlte sich wie auf schwankendem Boden, als wäre die Zeit des Exils, die Zeit auf den Schiffen, noch nicht beendet. Eine fremde Heimat war das hier, zumal sie gerade zur Beute der Barbaren wurde, die hinter den glitzernden Fassaden der Hauptstadt ihren Mordplänen nachgingen. Immerhinhatte sie einen Auftrag, aber ihr fehlten aufmunternde Worte, die kämpferische Gesinnung. Wir haben es immer gepredigt, allein ist ein Mensch wirklich nichts. Solidarität, Brüderlichkeit, der gemeinsame Kampf, Einheit – wie viele Worthülsen haben wir großzügig verschleudert. Nun, inmitten der gesichtslosen Menge, einem Wind ausgeliefert, der den Schnee in die Augen treibt und den Mantel zu dünn erscheinen lässt, würde ich gern in der Masse untertauchen, sogar im Gleichschritt marschieren, wo ich doch sonst oft genug dafür gesorgt habe, dass die, die zu wenige Fragen stellen, aus dem Tritt gerieten.
    Zum zweiten Mal an diesem Tag schob sie die Tür zum Postamt am Alexanderplatz auf, ließ ihren Blick rasch, unauffällig, aber genau prüfend über die Menge der Postkunden gleiten. Sind Spitzel anwesend? Woran willst du sie erkennen? Die Schlange vor dem Schalter für postlagernde Sendungen war lang. Sie werden wohl kaum alle Briefe von diesen Leuten gelesen haben.
    Ein Umschlag mit Mädchenhandschrift, darin ein niedlicher Brief an eine Tante gerichtet, mit einer ungelenken Zeichnung von Kindern, die eine Schneeballschlacht machten. Auf der Innenseite des Umschlags, sodass man es

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