Unter dem Schatten des Todes - Brack, R: Unter dem Schatten des Todes
steht er … Ausgebeulte, zu kurze Hosen, Schnürstiefel, eine grobe Arbeiterjacke mit knappen Ärmeln, um die Hüften rum zu weit, darunter ein helles Hemd, ordentlich zugeknöpft und eine Schirmmütze auf dem jugendlichen Kopf. Selbstbewusst, beinahe freundlich schaut er in die Kamera. Kühn und standhaft wie einer, der weiß, was er tut oder getan hat und warum. In den Händen hält er eine Schachtel. Sollen das die Kohlenanzünder sein? Der Schriftzug ist auf dem gerasterten Zeitungsbild kaum zu erkennen. Dagegen das Bild im 8-Uhr-Abendblatt von gestern. Es zeigt einen halb nackten, debil dreinblickenden Kerl. Dieselbe Hose, dieselben Stiefel, aber ein nackter Oberkörper, über den sich die Hosenträger spannen, üppiger Haarschopf und darunter das trotzige Gesicht eines Jungen, der etwas ausgefressen hat, es aber nicht für nötig hält zu bereuen. Athletisch wirkt er nicht gerade, kräftig schon, und mit diesen fleischigen Händen konnte der Maurergeselle zweifellos zupacken.
Noch mal das Gesicht unter der Mütze: Da schaut ein zufriedener Mensch hervor, er zeigt sich so, wie er von der Welt gesehen werden will, deshalb vielleicht auch das Päckchen mit den Anzündern. Wobei man sich fragen muss, was die Polizei geritten hat, ihn derart inszeniert der Presse zu präsentieren. Am anderen Foto fallen zwei Dinge auf: die müden Augen, als wäre er völlig übernächtigt, aber ein rebellischer Blick, der sich dem Gegner stellt und signalisiert, dass er bereit ist, Widerstand zu leisten. Bedenkt man jedoch, dass dieser Mensch brandschatzend durch den Reichstag gezogen ist und alles angezündet hat, was ihm in die Finger kam, schließlich sogar seine eigenen Kleider, und mehrere Scheiben zertrümmert hat, um sich Zugang zum Gebäude und zu verschiedenen Räumen zu verschaffen, dann sieht er erstaunlich unversehrt aus. Keine Brandverletzungen, keine blutigen Schnitte, auch die Hose ist nicht zerrissen. Blitzsauber steht er da, als hätte man ihn gerade aus dem Waschkübel gezogen.
Klara löffelte den Nudeleintopf mit Rindfleisch aus, den sie im »Speiselokal Wolgast« bekommen hatte, immer mit Blickauf die beiden Fotos. Derselbe Mensch, die Beine fast gleich stehend, einmal mit herabhängenden nackten Armen, die Hände übrigens nicht kampfbereit oder zornig geballt … das andere Mal ordentlich angezogen (sollte er seine Kleider tatsächlich, wie berichtet, verbrannt haben, hätte er diese hier von der Polizei gestellt bekommen), zurückhaltend, entspannter Blick und die Anzünder (es müssen die Anzünder sein!) so in den Händen haltend, als wollte er sagen: Seht her, damit habe ich die Tat begangen, die Deutschland erschüttert hat, es war ganz einfach …
Klara musste lachen … Was für ein großartiges Werbeplakat würde dieses Bild abgeben: » Feuerfee – Prima Kohlenanzünder – brennen zuverlässig an, selbst größte Brandobjekte«. Sie griff nach ihrem Bierglas und trank es aus.
Ein feister Bürger am Nebentisch mit Uhrenkette an der Weste und plumpem Gesicht starrte sie wütend an.
»Möchten Sie die Zeitung?«, fragte Klara.
»Ich lese keine Judenblätter«, stieß er hervor.
Der tief sitzende Zorn, den sie gegen diese Art Mensch hegte, brach aus ihr hervor. Mit leicht zitternder Hand legte sie die Zigarette auf den Aschenbecher. »Die haben aber einen flotten Stil«, sagte sie. »Liegt wahrscheinlich daran, dass sie nicht bei jedem Komma die Hacken zusammenschlagen und den Arm hochreißen müssen wie die Redakteure beim Völkischen Beobachter .« Sie deutete einen Hitlergruß an.
Der Bürger erhob sich halb und hatte schon rote Flecken im Gesicht: »Wenn Sie den Reichskanzler verspotten, muss ich …«
Der Kellner trat zwischen sie und servierte dem Bürger ein Gulasch. Dann drehte er sich auf dem Absatz herum, blieb weiter zwischen den Streitenden stehen und zog Stift und Block hervor. »Sie möchten zahlen?«
Klara wollte schon verneinen, da wurde ihr klar, dass der feiste Kerl Stammgast war. Sie griff nach ihrer Zigarette, las die Summe ab, die der Kellner notiert hatte und legte die Münzen genau abgezählt auf den Tisch. Früher hätte ich eine Diskussion vom Zaun gebrochen, hätte den Kellner gezwungen, Farbe zu bekennen. Und wenn mein alter FreundKurt Ritter, das nihilistische Lästermaul, dabei gewesen wäre, dann hätten wir uns vor dem feisten Bürger aufgebaut, ihm die Uhr aus der Westentasche gezogen und ihn gefragt, ob er denn wisse, was es geschlagen habe … Aber Kurt, der
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