Unter dem Schatten des Todes - Brack, R: Unter dem Schatten des Todes
Benjamin Tucker vertrat.
Walter nickte zustimmend, und Alfred stellte Klara eine Tasse mit Kräutertee hin. Er schmeckte wie heißer Hustensaft. Ein Bier wäre mir jetzt lieber, dachte Klara, oder ein Grog. Hochprozentig. Heiß. Das passt besser zu mir. Diese beiden Genossen hier sehen doch arg ausgemergelt aus. Sollte es etwa ein ungeschriebenes Gesetz geben: je radikaler desto entsagungsvoller? Askese soll ja gesund sein. Mens sana in corpore sano. Na gut, aber müsste es dann nicht heißen: Hagerer Geist in hagerem Körper? Und wäre das nicht das Gegenteil von dem, was ich mir von der Zukunft erhoffe? Freiheit, bedeutet das nicht Lust, Genuss, Lebensfreude, und … ja, auch dass man übertreibt?
Alfred erklärte seinem Genossen, es ginge darum, ein international angesehenes Presseorgan wie die Times zu nutzen, um die Wahrheit über Marinus van der Lubbe gegen die nazistische und stalinistische Propaganda zu verbreiten.
»Wenn er nicht in die Hände von Provokateuren geraten ist, verdient er unsere Unterstützung«, sagte Alfred.
»Das dürfte kaum möglich sein … jedenfalls ist es undenkbar, wenn man ihn gekannt hat«, meinte Walter.
»Erzähl ihr, was du über ihn weißt«, Alfred deutete auf Klara. »Sie will sich ein Bild machen.«
Walter trank seinen Tee in einem Zug aus und behielt die Tasse in der Hand. »Ich war mehrmals in Holland bei den Genossen von der Gruppe Internationale Kommunisten. Rinus, wie ihn dort alle nennen, gehörte irgendwie dazu, irgendwie auch nicht. Aber er war mit Piet befreundet, einem der führenden Köpfe. Und mit Eduard von der Spartacus-Gruppe, die uns politisch nahestehen, wenn sie auch eher anarchistisch orientiert sind.«
»Darüber ließe sich streiten«, warf Alfred ein.
»Wie auch immer. Man konnte schon erkennen, dass manche von den fleißigen Theoretikern den Heißsporn Marinus bewunderten. Der brauchte keine Theorie, um aktiv zu werden. Dem lag es im Blut, das hat man ihm angesehen. Wenn er redete, war er immer dann sehr überzeugend, wenn er vor seinesgleichen sprach, also vor jungen Leuten, die arbeitslos waren. Überhaupt hatte er ein Gespür für die Jugend. Für sie hatte er ja, als er noch zur holländischen KP gehörte, das Lenin-Haus gegründet. Das war eine Basiszelle für ständiges Unruhestiften und Herausfordern der Behörden und der Ausbeuter. Das war den Kommunisten dann zu viel, und sie haben ihn kaltgestellt.«
»Na klar«, meinte Alfred. »Parteiausschluss.«
»Rinus ist das, was man einen geborenen Rebellen aus dem Volk nennt«, fuhr Walter fort. »Er stammt aus ärmlichen Verhältnissen und dementsprechend schwieriger Familie. Geboren wurde er in der Stadt Leiden in Südholland, und da blieb er auch mehr oder weniger. Der Vater war fahrender Händler, der ständig im Land herumzog, die Mutter hatte eine Marktbude, aber aus all dem ist nichts Rechtes geworden. Er hat noch zwei Brüder, was die machen, weiß ich nicht. Die Mutter starb, als er noch jung war, der Vater trank. So geriet er als Halbwaise in die Fänge der Kirche …«
»Natürlich«, sagte Alfred verächtlich, »die schnappen sich zuallererst die Schwachen.«
»… aber dann rebellierte er und ging mit vierzehn Jahren zu den Kommunisten und wurde im Jugendbund aktiv. Es folgten viele spektakuläre Protestaktionen, die er organisierte. Er scheint ein Talent dafür zu haben, Gleichaltrige zu begeistern.«
»Und das Talent, sich mit der Parteiführung zu überwerfen«, fügte Alfred hinzu.
Walter lächelte schwach. »Das haben wir ja alle. Er wurde rausgeworfen aus dem Jugendverband, dann wieder zugelassen, dann wieder rausgeworfen.«
»Ein ziemlich schwieriger Charakter«, warf Klara ein.
»Nein, eben nicht. Er war zwar heftig und aufbrausend, aber er war auch tolerant. Beinahe schon bis zur Selbstverleugnung, jedenfalls hat Piet das so ausgedrückt. Bei einer Arbeitslosenveranstaltung zum Beispiel hat er gegen die johlende Menge der Anwesenden darauf bestanden, dass ein ausgewiesener Faschist seine Meinung sagen darf. Die Freiheit der Rede gelte für alle, auch für die politischen Gegner.«
»Grund genug, ihn aus der KP zu schmeißen. Wo kämen wir denn hin? Stellt euch vor, Stalin würde so etwas zulassen …«, meinte Alfred boshaft.
»Er hat eine Maurerlehre gemacht. Die Muskeln dafür hat er. Seine Kollegen nannten ihn Dempsey, weil er so athletisch ist. Trotzdem ging was schief, als er Kalk in die Augen bekam. Er wurde halb blind, Invalide, und musste fortan sein
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