Unter dem Schatten des Todes - Brack, R: Unter dem Schatten des Todes
Leben mit der Wohlfahrtshilfe fristen. Er wohnte bei Freunden und hat streng darauf geachtet, dass er nie jemandem etwas schuldig blieb. Jeden Pfennig, den er sich geliehen hat, hat er abgerechnet und von dem bisschen Unterstützung, die er bekam, zurückgezahlt. Es ist beinahe kurios, aber mehrere Leute in Holland sagten, dass er sehr freigebig sei. Da hat einer eigentlich nichts, aber er gibt dennoch, obwohl er nichts entbehren kann. Es war schon ein immer wiederkehrender Scherz, das hat Piet gern erzählt, dass Rinus etwas geschenkt bekam, sagen wir ein Kleidungsstück oder einMöbel, und wenn er dann losging, um es zu holen, musste man Angst haben, dass er es auf dem Rückweg an jemanden weiterschenkt, von dem er dachte, dass er noch ärmer dran war als er selbst. Und gab noch was obendrauf. Erst recht, wenn Kinder dabei waren. An denen hatte er einen Narren gefressen, da gab er den letzten Groschen weg und hungerte lieber, als dass er ein Kind traurig stehen ließ.«
»Hat das bisher jemand geschrieben in der vereinigten Hetzpresse?«, ereiferte sich Alfred. »Er wird denunziert als geistig zurückgebliebener Wirrkopf! Eine Schande!«
»Zurückgeblieben war er keineswegs«, fuhr Walter mit ruhiger Stimme fort. »Vielleicht fehlte ihm das Vokabular, vor allem auf Deutsch, aber er hatte nicht nur politische Schlagworte im Kopf, sondern auch philosophische Gedanken.« »Aber er war auch ein Schwärmer mit unausgegorenen Ideen«, merkte Alfred kritisch an. »Was war das zum Beispiel mit der Kanalüberquerung?«
»Unausgegoren? Vielleicht. Aber was blieb ihm übrig, er brauchte Geld, er hatte Großes vor. Warum dann nicht, wenn man sowieso schon ein Athlet ist, in einen sportlichen Wettkampf gehen?«
»Was für eine Kanalüberquerung?«, fragte Klara.
»Er wollte den Ärmelkanal durchschwimmen«, erklärte Alfred. »Solche merkwürdigen Ideen hatte er auch.«
»Was ist daran so dumm?«, meinte Walter. »Wenn es andere gemacht haben, und für 5000 Gulden! Das war der Preis, den eine holländische Zeitung für eine Kanaldurchquerung ausgesetzt hat.«
»Nun ja«, sagte Alfred zweifelnd. »So ganz gerade waren seine Wege nicht. Warum er zum Beispiel auf Teufel komm raus in die Sowjetunion wollte, verstehe ich nicht. Die Partei schmeißt ihn raus, und er will trotzdem unbedingt dem Genossen Stalin seine Aufwartung machen.«
»Er wollte in die Sowjetunion?« Auch für Klara war dieser Gedanke nach allem, was sie über van der Lubbe gehört hatte, eher abwegig.
»Nicht wegen Stalin«, erklärte Walter. »Es ging ihm um das Volk, das den Sozialismus aufbaut. Er wollte sich vergewissern,ob die heldenhaften Geschichten vom aufopferungsvollen Kampf der Arbeiter um die Zukunft richtig waren. Oder ob die Gräuelgeschichten über die Unterdrückungsmaschine der Bolschewisten stimmten.«
»Ein bisschen naiv war das schon«, warf Alfred ein.
»Nein, nicht naiv, im Gegenteil!«, ereiferte sich Walter. »Sag mir, was naiv daran ist, die Ergebnisse der Revolution aus eigener Anschauung kennenzulernen! Sag mir, was naiv daran ist, zu Fuß durch halb Europa zu gehen, um das angeblich gelobte Land zu erreichen und sich ein Bild über die Fortschritte des sozialistischen Aufbaus zu machen. Versetz dich doch in seine Lage. Ist es nicht alles Propaganda, im Positiven wie im Negativen? Liegt es nicht nahe, selbst nachzuschauen?«
»Er ist zu Fuß dahin?«, wunderte sich Klara.
»Versucht hat er es. Zweimal sogar. Einmal allein, einmal mit einem Freund. Beim ersten Mal ist er durch Deutschland und Österreich bis Jugoslawien und Ungarn gekommen. Soweit ich weiß, haben ihm die Behörden und Bürokraten einen Strich durch die Rechnung gemacht, und er musste das Unternehmen abbrechen, aber immerhin … Er hat übrigens Tagebuch geführt über seine Reise und sehr viele Briefe geschrieben. Offenbar war ihm wichtig, die Welt mit wachen Augen zu betrachten und seine Beobachtungen und Gedanken festzuhalten.«
»Zu Fuß und ohne Geld von Holland bis nach Ungarn?« Klara schüttelte den Kopf.
»Bis Budapest ist er gekommen. Von dort wollte er zur sowjetischen Grenze … Das war beim ersten Mal. Beim zweiten Mal ging’s über die Tschechoslowakei nach Polen, und dort wurde er gefasst, als er die Grenze nach Russland überschreiten wollte. Dann ist er zurück nach Holland gelaufen. Und zu Hause haben sie ihn gleich eingelocht, weil er in Abwesenheit wegen Sachbeschädigung verurteilt worden war. Er hatte die Scheibe des Wohlfahrtsamtes
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