Unter dem Schatten des Todes - Brack, R: Unter dem Schatten des Todes
dachte Klara, dann redet er zu viel. Sie mochte ihn nicht, vielleicht weil er irgendwie staubig wirkte und wichtig tat. Jedenfalls verzichtete sie darauf, ihm eine Manoli anzubieten. Mit Tabak und Papier kam er ziemlich gut zurecht, drehte mit einer Hand und rauchte noch mehr als sie. Er heiße Alfred, behauptete er.
Nachdem er ihr alle möglichen Informationen aus der Nase gezogen hatte – sogar über ihre Zeit in Dänemark wollte er Genaueres wissen – und sie ihm mal die Wahrheit, mal Erfundenes aufgetischt hatte, glaubte er offenbar, sie sei die Geliebte von Ludwig Rinke. Sie widersprach nicht, bestätigte aber auch nichts, da der Mann es offenbar gewohnt war, sich selbst die Antworten zu geben, die er haben wollte. Nun ging er also davon aus, dass sie im Auftrag einer internationalen revolutionären Bewegung ein positives Bild des Reichstagsbrandstifters in die große englische Zeitung schmuggelnsollte, um der Propaganda der stalinistischen Komintern gegen den Attentäter den Wind aus den Segeln zu nehmen. Lass ihn das nur glauben, auch wenn ich eigentlich den gegenteiligen Auftrag habe, dachte Klara und stolperte über das Wort »eigentlich«. Ja, »eigentlich« bin ich Komintern-Agentin, aber wer bin ich wirklich …?
Schließlich war er mit seinem nutzlosen Gerede und ihren vagen Antworten zufrieden und führte sie aus der Kneipe, durch einige Straßen in einen kleinen Buchladen, in dessen karg bestücktem Schaufenster Bücher zum Thema Astrologie und Die Schule des Okkultismus sowie Titel zu Hellseherei, Hypnose und ein dickes Werk über Die Hohlwelt-Lehre lagen. Ein Plakat mit dem Konterfei des Nazi-Magiers Hanussen vervollständigte das Bild.
»Was für ein Schrott«, murmelte Alfred, als er das Schiebegitter der Ladentür aufschloss. Mit einem entschuldigenden Blick fügte er hinzu: »Wir haben umdekoriert, aus Sicherheitsgründen.«
Die Tür war verspiegelt, man konnte nicht hineinsehen. Wenn du einbrechen willst, dachte Klara, kannst du dir dabei zuschauen.
Im Laden wurden andere Lektüren angeboten: Bekannte theoretische Werke der sozialistischen Bewegung, antifaschistische und antimilitaristische Kampfschriften, Manifeste, Broschüren, Biografien von intellektuellen Führern und revolutionären Arbeitern, Zeitschriften und Zeitungen in verschiedenen Sprachen, theoretische und propagandistische Publikationen der Allgemeinen Arbeiter-Union und der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands wie auch von den Anarcho-Syndikalisten der Freien Arbeiter Union.
Im Hinterzimmer war eine Art Schreibstube mit Druckerpresse eingerichtet, korrigierte Abzüge von Artikeln lagen herum, zwei Stapel mit Rudolf Rockers Prinzipienerklärung des Syndikalismus , die Klara nach eindringlicher Aufforderung durch Otto oder wie er hieß am Frühstückstisch studiert hatte, fertige Flugblätter mit Aufrufen zum »Generalsturm gegen Hitler« und Karikaturen, die die Führer der Nazi-Bande lächerlich machten, alles in offenen Pappkartons.
»Wir werden umziehen«, sagte Alfred. »Der Kampf wird aus dem Untergrund weitergeführt.«
Es war kalt. Neben dem Ofen stapelte sich das ungenutzte Brennholz. Klara schaute sich weiter um, entdeckte mehr Kisten und Koffer, die noch gepackt werden sollten. Wie schnell das geht, dachte sie, gestern noch stritten sie als Linksabweichler gegen die Vorherrschaft von KPD und SPD in der Arbeiterbewegung, warben für eine freie Selbstorganisation der Werktätigen und eine gesellschaftliche Organisation, in der die Macht nicht von oben nach unten dekretiert, sondern von unten nach oben delegiert wird … und was nicht alles für wundervolle Alternativen zu Kapitalismus und (wie sie es nannten) autoritärem Staatssozialismus… und nun folgten sie den großen Parteien in die Illegalität, nachdem sich herausgestellt hatte, dass weder die politischen Massenorganisationen, noch diese eifrigen Sektierer, noch ein individuell gegen die Barbarei revoltierender Holländer dem deutschen Volk auf seinem Marsch ins Verderben Einhalt gebieten konnten. Oder kommt das noch … werden wir bald schon erhobenen Hauptes den braunen Horden entgegentreten, sie zurückdrängen, in die Flucht schlagen? … »Alle Macht den Arbeiterräten!« stand auf einem Plakat, das sich halb von der Wand gelöst hatte – ist es nicht eigenartig, dass diese Parole, die uns alle vereinen sollte, uns im Gegenteil spaltet? Und ist es nicht merkwürdig, dass sogar ein so eigensinnig und egoistisch handelnder Mensch wie Ludwig
Weitere Kostenlose Bücher