Unter dem Teebaum
ihr auf, ein alter Mann. Er hatte den Mund geöffnet, um zu ihr zu sprechen, doch sie verstand ihn nicht. Der Mann war Jonah aus ihrem Traum nach seinem Tod. Erschrocken riss Amber die Augen auf. Ihr Blick fiel auf das Kind.
Das Baby sah seinem Traumvater zum Verwechseln ähnlich; in der Wiege lag ein winziger Greis. Gab es das? Konnte das sein? War es so, dass die Seele des Vaters in den Sohn geschlüpft war?
Amber erschrak. Zum ersten Mal seit vielen Tagen verspürte sie ein Frösteln. Dann überkam sie die Erkenntnis wie ein Wolkenbruch.
Sie hatte ihre Liebe zu Jonah und die Trauer über seinen Tod verdrängt. Doch wäre das Leben nicht unerträglich, würde die Erinnerung an ihn sie stets begleiten? Würde ihr nicht bewusst werden, was ihr alles fehlte? Sie war keine Frau mehr, seit Jonah tot war. Sie war ein Ding. Ein Ding, das funktionierte. Seit dem Tag seines Todes hatte sich Amber ihr Leben und ihren Zustand nicht vor Augen geführt. Aus Angst, daran zu zerbrechen.
War es das? Gedieh das Baby deshalb nicht, weil Amber nicht mehr wusste, warum sie noch lebte? Nicht mehr wusste, was sie mit den vielen Jahren, die ihr noch blieben, anfangen sollte?
Hatte das Kind ihre Ängste mit der Muttermilch eingesogen?
Sie schloss gequält die Augen. Zaghaft ließ sie die Tage und Monate seit Jonahs Tod an sich vorüberziehen. Wer war sie noch? Sie hatte Mühe, eine Antwort auf diese Frage zu finden.
Sie war einundzwanzig Jahre alt, hatte einen Beruf und eine Familie, die diesen Namen nicht verdiente. Ihr Vater war ein Mörder, ihr Ehemann nicht viel besser, und sie selbst war eine Versagerin. Von ihren Träumen und Wünschen waren nur Scherben übrig geblieben. Wenn Jonah sie jetzt sehen könnte! Sie und sein Kind, das so elend war. Oh nein, er wäre gewiss nicht stolz auf sie. Was hatte sie getan, um die gemeinsamen Träume zu retten? Was? Nichts. Gar nichts.
Amber fuhr auf bei diesen Gedanken. Sie hatte sich aufgegeben! Und ihren kleinen Sohn dazu. Was hatte sie sich denn für den kleinen Jonah erhofft?
Amber öffnete die Augen und sah zum Himmel empor. Sie konnte nicht glauben, was ihr jetzt bewusst wurde. Sie hatte ihr Kind verraten. Sie hatte sich ihm mit schuldbeladener Liebe genähert, hatte nichts getan, um für ihren Sohn ein glückliches Leben zu bauen. Bei Gott kein Wunder, dass er nicht gedieh!
Sie stand auf, nahm das Baby aus der Wiege und hob es auf den Arm. Sie roch an ihm, roch auch dort das Kränkliche. »Bin ich dabei, dich umzubringen?«, fragte sie leise. »Geht es dir nicht gut, weil es mir schlecht geht? Gebe ich mit meiner Milch auch mein Empfinden weiter?«
Der Junge lag ganz still. Sein Atem ging ruhig. Amber wiegte ihn hin und her. Obwohl die Hitze noch immer so drückend war, dass jede Bewegung eine Last war, fühlte sie plötzlich neue Kraft in sich aufsteigen. Sie sah dem Baby ins Gesicht – und plötzlich lächelte das Kind! Es sah sie an und lächelte, als wolle es sagen: Ja, du bist auf dem richtigen Weg. Amber küsste den Kleinen, dann flüsterte sie ihm ins Ohr: »Ich glaube, ich habe dich verstanden.«
Sie ging mit ihm ins Haus, betrat ihr Mädchenzimmer, in dem sie nur noch selten war. Sie sah sich um, dann ging sie zu einer Schublade, zog sie heraus und fand darin eine kleine schwarze Pappschachtel, die mit rotem Samt ausgelegt war. In der Pappschachtel lag der Stein, den sie von Jonah am Tage ihrer Wiederkehr bekommen hatte. Ein Stück vom Uluru, ein Stück von der Regenbogenschlange, der Mutter allen Seins. Sie nahm den Stein in die Hand und schmiegte ihre Wange so lange daran, bis der Stein ihre Körperwärme angenommen hatte. Dann hielt sie ihn an die Wange ihres Sohnes. Das Kind griff mit seinen Händchen danach und lachte glucksend.
»Es ist dein Stein«, erzählte sie ihm. »Er gehört dir. Ein Erbe deines Vaters.«
Dann trug sie den Säugling zurück auf die Veranda, legte ihn zurück in die Wiege und steckte den Stein so unter das Kopfkissen, dass er den Kleinen nicht drücken konnte, aber in seiner Nähe war. Beinahe sofort schlief er ein. Seine Züge entspannten sich, wurden weich und jung.
Amber ging ins Haus. Aluunda sah von ihrer Arbeit auf und ließ die Bohne, die sie gerade schnippeln wollte, zurück in die Schüssel gleiten.
»Ich habe etwas zu erledigen«, sagte Amber. »Kannst du bitte nach Jonah sehen? Er schläft im Augenblick, aber vielleicht wird er bald Durst bekommen.«
Aluunda nickte. »Natürlich sehe ich nach ihm. Was hast du vor?«
Amber
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