Unter dem Teebaum
auf das Licht gerichtet. Etwas Hartes, das in ihr lebte, wurde von den Tränen aufgeweicht. Eine Last fiel von ihr ab, machte sie leichter.
Das Bild ihres Vaters tauchte vor ihr auf, und Amber hatte das Bedürfnis, ihn zu umarmen. Mit dieser Umarmung wollte sie ihn wieder aufnehmen in ihr Herz, in ihre Seele, in ihre Liebe. Sie hatte dem Mörder ihres Liebsten vergeben. Oder nein: Sie hatte begriffen, dass Walter Jordan kein Mörder war. Nein, das war er wahrhaftig nicht. Es fehlte ihm an Menschenverachtung, es fehlte ihm an Brutalität. Ihr Vater liebte die Menschen, und im Grunde war es ihm sogar gleichgültig, welche Hautfarbe sie hatten. Nein, er war kein Mörder. Jonahs Tod war ein Unfall, ein Versehen, ein Unglück, das den Täter schwerer strafte als das Opfer. Amber wurde das Herz leichter. Ihr Vater war kein Mörder. Sie konnte ihn wieder lieben, sie durfte ihn lieben, ohne Jonah zu verraten.
Dann sah sie Steve vor sich. Einen Steve, der die Schwarzen schlecht behandelte, einen Steve, der ihre Hand hielt, als sie Schmerzen und Angst gehabt hatte.
»Lieber Gott«, betete sie. »Ich weiß nicht, wer der Mann ist, mit dem ich vor dem Altar gestanden habe. Bitte hilf mir, ihn kennenzulernen und ihn zu verstehen, damit ich lerne, mit ihm zu leben.«
Sie stand auf und hätte vor Erleichterung beinahe laut gelacht. Jetzt hatte sie die Antwort auf die Fragen bekommen, die ihr während der ganzen Zeit nach Jonahs Tod die Luft abgedrückt hatten, die wie ein Stein auf ihrer Seele lagen. Jetzt war sie befreit von dieser Last! Jetzt würde sie zu leben beginnen. Die Erstarrung, in die sie nach dem Tod Jonahs gefallen war, hatte sie abgestreift. Sie würde trauern um ihn und endlich zurück ins Leben finden. Sie würde ihren Sohn aufziehen und das Land hüten, das die Ahnen ihm und seinem Clan anvertraut hatten.
Beschwingt lief sie aus der Kirche, zurück zum Parkplatz. Als ihr Blick auf den Supermarkt fiel, kam eine leise Trauer in ihr auf. Sie hätte so gern eine Freundin gehabt. Doch heute hatte sie erfahren, dass es für sie in Barossa Valley keine Freunde mehr gab. Sie passte nicht hierher. Von nun an musste sie mit dem Misstrauen der Gemeinschaft leben.
Amber fühlte sich plötzlich so einsam, dass sie sich am liebsten zusammengekrümmt hätte. Sie legte beide Hände auf ihren Bauch und beugte sich vornüber. Es tat weh. Das Leben tat weh.
Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Sie drehte sich um.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Dr. Lorenz stand hinter ihr. Dr. Lorenz, der Arzt, der ihre Schwangerschaft betreut hatte, der die Menschen in Tanunda heilte, der auch mal zu einem Schaf oder einem Rind gerufen wurde, wenn der Tierarzt nicht zu erreichen war.
»Ja, es geht mir gut. Danke«, antwortete Amber und richtete sich auf. Sie hatte nicht gelogen; es ging ihr besser. So gut, wie schon lange nicht mehr.
Das Lächeln fiel ihr auf einmal leicht.
»Es ist schön, Sie einmal lächeln zu sehen«, sagte der Arzt und hob die Hand, als wollte er sie berühren. Er räusperte sich und sprach weiter: »Wie geht es dem Kleinen?«
Ambers Lächeln erlosch. »Er macht mir Sorgen«, erwiderte sie.
Dr. Lorenz nickte. »Manche Kinder haben es schwerer als andere, sich an das Leben zu gewöhnen«, erklärte er. »Aber ich glaube nicht, dass Sie sich allzu große Sorgen machen müssen. Sie sind eine sehr gute Mutter, Amber.«
Amber zuckte zurück. »Was sagen Sie da? Ich – eine gute Mutter?«
Sie lachte auf und schüttelte den Kopf. »Ich muss Sie enttäuschen. Ganz Tanunda hält mich für die schlechteste Mutter in ganz Australien.«
Der Arzt ließ sich nicht beirren. »Mag sein, dass andere nicht so denken wie ich. Doch ich weiß, dass sie in ihrem Kind nicht nur sich selbst lieben, das eigene Fleisch und Blut, sondern dass Sie sehr genau wissen, dass Jonah eine eigene Seele hat, die behütet werden muss.«
Amber ließ die Arme fallen und die Schultern sinken. Ihr Mund zuckte. »Das ist das schönste Kompliment, das ich je gehört habe«, sagte sie leise. Dann straffte sie sich und ergriff die Hand des Arztes. »Ich benehme mich albern, Dr. Lorenz, und ich weiß es. Trotzdem möchte ich ihnen versprechen, in die Hand versprechen, dass ich mich immer um Jonahs Seele sorgen werde.«
Der Arzt lachte nicht. Er sah Amber ernst an und erwiderte: »Das müssen Sie mir nicht versprechen, das weiß ich. Jonah ist der besondere Sohn besonderer Eltern. Es ist schön für mich zu wissen, dass er bei Ihnen
Weitere Kostenlose Bücher