Unter dem Vampirmond 04 - Schicksal
nahmen mich auf dem Weg zur Kirche in ihre Mitte und Jack hielt meine Hand. An einem Pfosten fiel mir ein vom Wetter etwas mitgenommenes Plakat auf. Ich hatte während der letzten Monate in Minneapolis und St. Paul Tausende solcher Flyer gesehen. Ein Schwarzweißfoto von Daisy war darauf zu sehen und darunter eine Telefonnummer für jegliche Informationen zu ihrem Verschwinden.
Ihre Entführung war ein gefundenes Fressen für die Medien gewesen. Ein bezauberndes, todkrankes fünfjähriges Mädchen, das aus einem wohlhabenden Viertel entführt wurde, erregte eben viel Aufmerksamkeit. Mittlerweile gingen jedoch alle davon aus, dass Daisy tot war, weshalb das Interesse an dem Fall zurückgegangen war.
Die Kirche war brechend voll und die Luft dementsprechend stickig. Die Stimmung war bedrückend. Das Geräusch von Weinen und schwermütigen Herzschlägen erfüllte meinen Kopf.
Der Mahagonisarg stand mit offenem Deckel am Ende des langen Mittelgangs. Sein Anblick hatte auf mich denselben schwindelerregenden Effekt, als würde ich aus einer großen Höhe in die Tiefe schauen. Jane konnte ich vom Eingang der Kirche aus nicht sehen, nur das weiße Futter ihres Sargs.
Meine Knie wurden weich. All das schien so unwirklich. Jack drückte meine Hand fester und Milo rückte näher zu mir.
Weil ich wacklig auf den Beinen war, setzten wir uns gleich in eine der hinteren Bänke. Ich hatte erwartet, dass mich wieder diese seltsame Benommenheit überkommen würde, aber dem war nicht so. Mir war übel und meine Gefühle waren um ein Vielfaches intensiver als sonst.
Milo weinte fast die ganze Predigt hindurch. Er war oft nicht sonderlich begeistert gewesen von Jane, vor allem weil er glaubte, sie hätte einen schlechten Einfluss auf mich, aber er hatte sie andererseits auch gemocht. Sie konnte sehr witzig und nett sein und oft war sie das auch gegenüber Milo.
Nachdem ihr Cousin die Grabrede gehalten hatte, übergab der Pfarrer allen Anwesenden das Wort. Doch ich fühlte mich nicht dazu imstande. Alles, was ich zu sagen gehabt hätte, wirkte frevelhaft. Ich hatte unsere Freundschaft aufgegeben, und wenn ich das nicht getan hätte, wären wir jetzt vielleicht nicht hier.
Am Ende wurden alle aufgerufen, Jane die letzte Ehre zu erweisen. Jack wartete hinten auf der Kirchenbank, während Milo und ich nach vorne gingen. Ich war dankbar, Milo neben mir zu haben, der meine Hand hielt, denn allein hätte ich das nicht geschafft. Er war der Einzige, der sie kannte, wie ich sie kannte.
Das Schlimmste daran, sie im Sarg liegen zu sehen, war, dass sie nicht aussah, als sei sie tot. Es war fast genau einen Monat her, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, und sie sah nun viel besser aus als damals. Sie hatte etwas zugenommen und ihre Haut hatte wieder etwas Farbe bekommen. Vielleicht schien das auch nur so wegen des Make-ups, aber das machte keinen Unterschied.
Jane sah so lebendig aus wie seit Monaten nicht mehr, doch sie war tot.
Ich streckte den Arm aus und berührte ihre Hand, die sich kalt und steif anfühlte. Tränen rannen über meine Wangen. Ich wollte mich entschuldigen, Abschied von ihr nehmen, ihr einfach irgendetwas sagen, aber ich brachte kein Wort über die Lippen. Mein Mund blieb stumm. Wie Milo brachte ich nur ein ersticktes Schluchzen hervor.
Wir waren die Letzten, die noch an ihrem Sarg standen, und die Blicke der Sargträger waren auf uns gerichtet. Ich hatte schon zu lange dagestanden, ohne etwas zu sagen, also zog ich Milo sanft vom Sarg weg. Im Bewusstsein, dass ich Jane nie wieder sehen würde, wandte ich meinen Blick von ihr ab.
Milo und ich hatten schon beinahe unsere Plätze im hinteren Teil der Kirche erreicht. Um nicht versehentlich an unserer Sitzreihe vorbeizulaufen, hob ich den Blick, und was ich sah, verschlug mir den Atem.
Vor uns stand unsere Mutter.
Als ich abrupt anhielt, hob Milo den Kopf. Und Moms Mund blieb vor Staunen offen stehen, als sie Milo sah.
Wir hatten uns beide verändert, als wir Vampire geworden waren, Milo allerdings wesentlich stärker als ich. Er war sechzehn gewesen, als er verwandelt wurde, doch seine Pausbacken und seine großen braunen Augen hatten ihn jünger aussehen lassen. Nach seiner Verwandlung war er größer und breitschultriger geworden und hatte seinen Babyspeck vollkommen verloren.
Mom hatte ihn vor vier Monaten das letzte Mal gesehen, und er sah nun um Jahre älter aus, etwa wie achtzehn oder neunzehn.
Seit unserer Verwandlung hatten wir den Kontakt zu unserer
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