Unter dem Zwillingsstern
entschuldigen. Ihr Verhältnis zu Philipp ver w irrte s ie. Er tauchte in unregel m äßigen Abständen in Berlin auf, rief sie an oder wart et e in ihr e r winzigen Wohnung auf sie, zu der er sich durch irgendeinen Trick den Schlüssel besorgt haben m ußte, denn sie hatte ihm nichts dergleichen gegeben, und jedes m al, wenn sie ihn sah, spürte sie die körperliche Anziehungskraft, die er a u f sie ausübte, unverändert stark. Es m achte sie verwundbar, und um s ich einen neuen Schutzschild zu schaffen, versuchte sie, m ehr üb e r ihn herauszufinden. »Für je m anden, der vorgibt, an die Überlegenheit der sogenannten arischen Rasse zu glauben, bist du erstaunlich unarisch«, sagte sie an einem Nach m ittag zu ihm und fuhr m it den Fingerspitzen über seine olivfarbene Haut, die sich bei ihrer Berührung zusammenzog. »So dunkel. Du m ußt doch ein paar höchst unger m anische Vorfahren gehabt haben.«
»Meine Gr o ß m utter war Ungarin«, a n twortete P hilipp, st ü t zte sich auf einen Ellenbogen und fixierte sie m it der ausschließlichen Auf m erksa m keit, m it der er sie seit Ja hren beunruhigte. Es gab ihr das Gefühl, völlig allein im Universum m it ihm zu sein, und sie erinnerte sich an etwas, das einer der Tontec h niker, der sich m it dieser Tätigkeit sein Physikstudium finanzier t e, ihr erzählt hatte: über ein physikalisches Phäno m en, d a s sogar das Licht der Sterne in s ich aufsog und versch w i nden ließ.
» W oran denkst du ? « fragte Phil i pp, und sie antwort e te: an nichts, an gar nichts. Er beugte sich üb e r sie und zeichnete m it einer Hand ihre Ge s ichtslinien nac h . Im völlig e n Gegensatz zu die s er z ärtlich e n Geste s tand seine kalte Stim m e, m it der er feststellte: »Du lügst. Aber ich kann dafür sorgen, daß es wahr wird. W as m einst du, wie lange denkt das m enschliche Geh i rn noch, ohne Blut und ohne Sauers t off ? «
»Ich habe keine Angst vor dir«, sagte Carla, w ährend seine Finger ihr Kinn umrundeten und ihren Hals hinunterwanderten.
»Du lügst schon wieder.«
Doch obwohl sie es m a nch m al befürchtete, war er nie brutal zu ihr; tatsächlich schien die Art und W eise, in der er sie liebte, ein anderes Wesen auszudrücken als die oft g e nug von Feindseligkeit geprägten Worte, und das trug zu ihrer Ver w irrung bei. E i nen anderen Menschen m it d em Körper zu ent d ecken war eine neue Art der K o mmunikation, ein Labyrinth, in dem sie sich oft genug verlief; manch m al dachte s i e, d aß sie von P hilipp m ehr über Körpersprache ler n te als in dem Jahr in der Schauspielschule m it all ih r en Diskussio n en, als s ie die Mecha n ik erfaßte, o hne sie wir k lich zu be gr eifen. Es wirkte s ich anschei n end auch auf ihr Spiel aus; Renate Beuren, die nie Pre m ieren besuchte, weil sie die Meinung vertr a t, daß die wahre darstellerische Leistung erst danach begann, wenn das Adrenalin des N euen fort war, sah sich dazu bewegt, ihr als Weihnachtsgeschenk ein direktes Lob auszusprechen.
»Ich weiß, daß Ihr Vertrag nur diese beiden Rollen nennt und alles weitere dem Direktorium überläßt, aber glauben Sie m i r, Max wird Sie auch in den beiden Urauffüh r ungen nächstes Jahr unterbringen.«
Frau Beuren ging es nicht besond e rs gut; sie hustete, der W i nter setzte ihren Knochen zu, und sie kam Carla bei jeder Begegnung verblichener vor, wie eine alte sepiabraune Daguerreotypie aus dem letzten Jahrhundert. Sie hatte für R e nate Beuren nie das gleiche e m pfunden wie für Kathi, doch der sic h tbare Verfall der alten F r au verstörte Carla, und die Vorstellung, sie könnte sterben, verursachte ihr K u m m er.
Philipp, der vor W eihn a chten noch ein m al nach Berlin gekommen war, f and sie m itten in der Nacht v or dem Ka m in des Hotelzim m ers im Adlon knien. Sie be m erkte ihn nicht schnell genug, um ihre Tränen zu verbergen, und dann war es ihr auch egal.
»Jeder stirbt«, sagte sie, und die ausglühende K ohle verschw a mm vor ihrem Blick. »Jede Sekunde, jeden Tag. Ist es nicht unerträglich, daß die Menschen sterben ? «
Heftig fuhr sie sich m it dem Handrücken über die Augen und stand auf. »Ich weine zu leicht, ich weiß«, mu r m elte sie, be m üht, ihre Fassade wieder aufzurichten, »aber es ist nützlich f ür eine Schauspiel e rin.«
Philipp ging nicht darauf ein; st a tt dessen fragte er sie unver m ittelt, ob sie Ski f ahren könne. Carla schüttelte den Kopf, denn nie m and hatte es ihr je beigebracht, und
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