Unter dem Zwillingsstern
brachte es nicht fertig, einen F ilm zu besuchen, ohne hinterher laut über die Machart und die m ögliche politische Bedeutung zu spekuli e ren. Sie er k lä r te C arla, daß d ie Universu m s f il m gesell s cha f t gegen Ende des Krieges auf W un s ch der Heeresführung gegründet worden war, zweifellos nur, weil m a n die Macht dieses neuen Unterhaltungsinstru m entes erkannt hab e , aber das alles küm m e rte Carla wenig. Sie ließ sich von den rie s igen Figuren auf der Leinwand verzaubern, dem schnurrbärtigen kle i nen Mann m it seinen übergroßen Hosen und dem kleinen Stöckchen, der Frau m it den langen Schlangenhaaren, die fliegen konnte, a l l den degenfechtenden kostü m i erten Helden, die sich zur Begleitung der Klavierspieler graziös durch Burgen und Schlösser bewegten.
Robert, der ihre Begeisterung wohl geteilt hätte, war nicht da, um ihre Entdeckung zu würdigen. E r h a tte seine Z eit an der W ilhe l m sschule vom ersten Augenblick an g e haßt; das endlose Aufstehen und Setzen beim Erscheinen der Lehrer, die langweiligen Fächer, denen er nicht m e hr entkommen konnte und bei denen es nun keine Hilfe m ehr gab, und seine Mitschüler, die ihn für verrückt hielten und seine Abneigung vollauf erwiderten. Bereits nach einer W oche begann er m it seiner Ka m pagne für, wie er es Carla gegenüber formulierte, »die Freilassung aus der Hölle«.
Sein sonst s o gut m ütiger Vater erwies sich jed o ch zunächst als überraschend unnachgiebig; in W ahrheit hatte R ainer König schon länger das Gefühl, der Junge wachse ihm über den Kopf, und Dada Gold m ann bestand ebenfalls auf der Notwendigkeit einer regulären Schulbildung. Ihre letztendliche Sinnesänderung kam durch das Zusam m entreffen zweier E reig n isse z u stande; Robert war v e rzweifelt genug, um es darauf anzulegen, von seinen L ehrern körperlich bestraft zu werden, und einer von Dr. Gold m a nns Studienkollegen wurde Mitglied des Lehrerkolleg i u m s einer neu gegründeten experi m entellen Internatsschule. An dem Tag, an dem Dr. Gold m ann den Brief erhielt, der ihm in glühenden Farben die Pläne für eine neue Art des Unterrichts au s m alte, kam Robert m it Händen, die durch die präzi s en Schläge eines Lineals aufgeschwollen waren, in d as Hotel, in dem sein Vater zur Z eit le b t e, u n d entset z t e diesen m it einem nur teilweise ge spielten Tränenausbruc h . Zwei W ochen später s aß er i m Zug nach Lubeldorf in der weiteren U m gebung von H a mburg und verfaßte, um sich die Zeit zu ver t reiben, den ersten von vielen Briefen an Carla.
Mein lieber Hadschi, hci ebah se tffahcseg! Schlimmer konnte es nicht mehr werden. Sei froh, daß Du vor Schulen sicher bist. Wenn ich in d i esem Landschulheim a l ler d ings auch s ämtliche Witteisbacher auswendig lernen muß, dann brauche ich dringend einen neuen Einfall. Bitte erkundige Dich für mich nach den Schiffahrtsplänen in Hamburg, die müßtest Du bei der Post bekommen können. Das liegt gar nicht so weit entfernt von dem Nest mit dem Landschulheim. Und schick mir Im Lande des Mahdi bitte gleich mit, das hat nicht mehr in den Koffer gepaßt. Viele Grüße Kara ben Nemsi.
P.S. Uns gegenüber sitzt ein kleiner Mann mit Lederjacke, der in einem fort Zigarren raucht. Dada hat ihn schon mehrfach gebeten, damit aufzuhören, und ist nun zum Gegenangriff übergegangen. E r reißt ständig das Fenster auf, und die Lederjacke macht es wieder zu. Ich bin gespannt, wer sich durchsetzt.
Mein lieber Sam Hawkins (sie weigerte sich hartnäckig, ihn als Kara ben Nemsi oder Old Shatterhand zu akzeptieren) wie kommst Du darauf, daß ich vor Schulen sicher bin? Mich wundert es ohnehin, daß ich nic h t schon län g st in einer stecke, a b er n i em Retav h at wohl Angst, sie w ürden sich entweder w eigern, mich aufzunehmen, oder akzeptieren und mich einen Aufsatz über meine Familie schreiben lassen. Und wenn Du glaubst, ich s c hicke Dir eins von meinen Büchern, damit Du darin herumkritzelst, hast Du Dich geschnitten. Die Aufstellung der wichtigsten Schiffahrt s linien liegt bei. Wie ist es in Deinem Internat? Wenn Du gerade vor Langeweile bei den P reußen eingehst, dann sei bitte sehr neidisch und denke an mich ich war gestern in einem Kino! (Heißt es der Kino oder das Kino? K.B. sagt, sie hat beides gehört.) Der Film kam aus Ame r ika und war sehr komisch; er handelte von einem Vagabunden, der ein Mädchen vor den Zigeunern rettet und ihr dann beibringt, wie man
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