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Unter dem Zwillingsstern

Titel: Unter dem Zwillingsstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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genartig. Dr. Gold m ann war nie Zi o nist gewesen. Vor 1933 bezeichnete er, wenn m an ihn darauf ansprach, die Vorstellung von einem neuen Staat Israel sogar unu m wund e n als töricht und regressiv. Ein in Deutschland geborener Jude war Deutscher, dachte er, e i n in England geborener Jude Engländer, ein in Rußland geborener Jude Russe und so weiter. Jenseits eines gewissen historischkulturellen Konsenses gab es nichts Verbindendes; warum um alles in der Welt darauf beharren, m an müsse ge m eins a m in ein W üs t enland ziehen, das zivilisierte Europa hinter sich lassen und sich als Staatsgrün d er betätigen? München war seine Hei m atstadt, nicht Jerusale m , und er war Arzt, nicht Landbebauer. Ganz abgesehen davon, daß Palästina alles andere als unbewohnt war. Außerdem würden die Englä n der wohl kaum ihr Mandat aufgeben, Balfour-Erklärung hin, Balfour-Er k lärung her, schließlich waren sie m it den Arabern verbündet. Ne i n, Dr. Gold m ann sah in Palästina die Vergangenheit, nicht die Zukunft; es würde nie wieder eine jüdische Nation geben, doch die Juden aller Nationen konnten das Ihre dazu tun, Grenzen zu überwinden. Das war seine Überzeugung gewesen, bis Hitler an die Macht kam und ihm tagaus, tagein m itgeteilt wurde, daß er eben kein Deutscher sei, daß es sich ausschloß, gleichzeitig Deutscher und Jude zu sein.
    Aber was, fragte sich Martin Gold m ann und reckte den Hals, um etwas m ehr erkennen zu können, bedeu t ete es, Jude zu sein? Zur Orthodoxie zurückzukehren? Zu dem r e for m ierten Judentum seiner Eltern? Seine äußerst geringen Hebräisc h -Ken n tnisse aufz uf rischen und anzufangen, die sch m erzlich enttäuschte Liebe zu seiner alten Hei m at auf einen Fleck Erde zu üb e rtragen, den er nie zuvor gesehen hatte? Er w ußte, daß C arla m it Feuchtwanger wegen Käthe sprechen wollte und d eswegen hier war, doch er hoffte, daß sich die Gelege n heit fand, mit dem Mann auch über diese Fragen zu reden. Er kannte Feuchtwangers Ro m ane, und gerade in den letzten, die er gelesen hatte, denen über den jüdischen H i storiker F lavius Josephus, tauchten äh n liche Fragen wie die auf, die ihn beschäftigten. Außerdem stam m te F e uchtwanger aus dem gleichen Milieu wie er; er würde es verste h en, auf eine W eise, wie we d er Robert o der Carla n och die hiesigen a m erikanischen Juden, d i e er kennengel e rnt hatte, es konnten.
    »Da«, sagte Carla und deutete auf einen kleinen, bebrillten Mann, der von zwei Begleitern zu der Rednertribüne eskortiert w urde. Es war Jahre her, seit sie Lion Feuchtwanger und seine Frau in ihrem Berliner Haus gesehen hatte, und sie fand, daß er ähnlich rapide gealtert war wie Dr. Goldmann, hütete sich jedoch, das laut zu äußern. Die Stim m e klang jedoch gleich, ungebrochen, lebhafter als die von Dr. Gold m a nn, und der bayerische Akzent war im Englischen kurioserweise se h r viel d eutlicher als im Deutschen. E r dankte den Veranstaltern, die ihn begrüßten, und ging nach einigen einleitenden Sätzen zum Kern seiner Rede über.
    » W ie m an c hen von Ihnen bekannt sein wird, hat m i ch in m einer Trilogie Josephus vor allem jene Auffassung des Judentu m s beschäftigt, die nach der Zerstörung des z w eiten Te m p e ls entstand. Ich habe versucht, m i ch einzufühlen in den kühnen Plan und die großartigen Ideen jener Doktoren, die da glaubten, es könne ein Volk zusa mm engehalten werden auch ohne Staat, durch gewisse gemeinsa m e Gebräuche und Überzeugungen, durch einen gewissen consensus o m nium in bezug auf die wichtigsten Fragen d es Seins. In diesen let z ten Ja hr en habe ich m ich m an c h m al gefragt, ob nicht vielleicht doch die Repräsentanten eines solc h en m utigen Idealis m us recht behalten würden gegen die Verfechter der Idee eines r e alen jüdischen Staates. Der Krieg, in dem wir jet z t stehen, zeigt, daß dauerhafte m enschliche Bindungen nicht geschaffen werden können ohne gesunde m aterialistische B asis. Sie m ögen sagen leider, Sie m ögen sagen glücklicherweise, dieses eine Ergebnis des Krieg e s s t e h t f est: ein Volk, welcher Art auch im m er, kann nic h t be s t e hen in ein e m lu f tleeren Rau m , i n dem nur Ideen wohnen. Ein Volk m uß Bod e n haben, auf dem es stehen kann, einen Staat. Der Krieg, scheint m ir, hat diese m aterialistische Überzeugung nicht nur in m i r, sondern auch in vielen anderen wieder wach werden lassen. Der Krieg hat außerdem eine psychologische Situation

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