Unter dem Zwillingsstern
nicht g ewohnt, auf Treibsand zu leben, und seit ein p aar Jahren tue ich nichts and e res m ehr.«
Einer der heftigen, aus dem Nichts kom m e nden New Yorker W i ndstöße blies ihr Haar durchein a nder, und während sie versuchte, es zu entwirren, schlug sie sich v e r sehentlich d ie Brille vom Kop f . Dr. Gold m ann bückte sich rasch und hob sie auf.
»Sie sind ein lieber Mensch«, sag t e sie, was als Entschuldigung gedacht war, und weil Käthe ein m al genau das gleiche zu ihm gesagt hatte, versuchte er, die plötzlich aufsteigenden Tränen wegzublinzeln.
Während dieses New- Y ork-Aufe n thalt e s h a tte Carla k eine W ohnung gefunden, sondern war in ein Hotel gezogen, in dem sie auch Dr. Gold m ann unterbrachte. Als sie in ihr Zim m er zurückke hr te, war sie allein. Auf d e m Tisch neben der Couch lag auf einem s i lbernen Tablett die Post, die sie rasch überflog. Ein Brief von Charlotte Dieterle wegen des European Film Fund; eine Benachrichtigung vom E m pfang, Miss Mendelssohn habe ver s ucht, sie telefonisch zu erreichen; und ein Brief, der ihr von i h rer Adresse in Beverly Hills nachgeschickt worden war, ein Brief aus dünnem Papier, das sich abgegriffen, vielfach geknickt und brü c hig anfühlte. Der ursprüngliche Absender lag in England, das sah m an an den Brief m arken, also glaubte sie zunächst, es handle sich um Post von ihren walisischen Verwandten. Aber die S chrift war ihr neu, und schon an der Anrede erkannte sie, daß der Brief, so voll Rechtsc h reib f ehler er a uc h stec k te, nicht von einem Briten geschrieb e n worden war. Nach den ersten Zeilen setzte sie sich aufrecht hin und schloß die Augen; sie wollte nicht weiterlesen, denn jede Faser i h res Her z ens sagte ihr, w orauf es hinausliefe. Sie wünschte sich, schreien zu können, wie sie geschrien hatte, als sie den Polizisten neben ihrem Vater stehen und von Annis Tod erzählen sah. Schließlich zwang sie sich, d ie Augen wieder zu öffnen und den Rest der runden, lei c ht versch m i erten Schrift, die den Eindruck machte, als habe ihre Ver f asserin g e weint, in si ch au f zuneh m en.
Als Carla, was noch nie vorgeko mm en war, nicht rechtzeitig z u r Probe erschien, rief m an im Hotel an, und die E m pfangsd a m e k a m auf die Idee, Dr. Goldmann, der gerade im Foyer Tee trank, zu fragen, ob er nicht nach Miss Fehr s ehen wolle, sie werde erwartet. Verwundert und beunruhigt m achte sich Dr. Gold m ann auf den W e g zu Carlas Zimmer, klopfte und fand, daß sie die Tür nicht ganz geschlossen, sondern nur angelehnt hatt e , so daß er eintrat. Sie saß auf der Couch, reglos, ohne auf ihn zu reagieren, und er erkannte sofort die Sy m pto m e. Früher hatte m an das Schützengrabenneurose genannt, und er hatte sie bereits drei m al so erlebt, völlig in sich abgeschottet: als Robert sie aus der V i lla ihres V a t e rs m itbrachte, während ihrer Krankheit zum Jahreswechsel 1932/33 und nach der Abtreibung, als sie außer Robert über h aupt nie m anden wahrnah m . Er setzte sich neben sie. Ihre Hände waren eiskalt und der P uls flach. Die Pupillen waren gew e it e t, aber sie schien ihn n och im m er nicht zu sehen.
»Carla«, rief er und ver s etzte ihr einen leichten Klaps auf die W ange, »Carla!«
Langsam wurde ihr B l ick konzentrierter. Sie at m ete ein paar m al tief ein und aus, dann sah sie ihn an, und der Ausdruck von Erbitterung und Zorn bestürzte ihn.
» W aru m «, s agte sie heftig, »warum muß m an euch erst Ge w alt z u fügen, bevor ihr aufhört, Märtyrer s ein zu woll e n? Ich hätte sie ei n fach zwingen m üssen, m it m i r zu g e hen. Robert hat es bei Ihnen gekonnt. W arum ich nicht bei ihr? W enn ich sie erpreßt hätte, wenn ich ihr vorgehalten hätte, daß sie nic h t für m i ch da war, als ich s i e brauchte, dann wäre sie jetzt hier!«
Er versuchte, ruhig zu bleiben, obwohl alles in ihm dagegen protesti e rte.
» W as ist geschehen ? «
Carla öffnete ihre linke Hand, in der sie einen ze r knitterten Briefbogen hielt. Sie wollte ihn an Dr. Gold m ann weiterreichen, besann sich jedoch eines Besseren.
»Sie hat die Chance, sich zu r e tten, für eine Frau und deren Kinder aufgegeben«, sagte sie, »und ist in dem Lager zurückgeblieben. Das bedeutet, sie war noch dort, als die Weh r m acht eintraf.«
»Sie kann immer noch am Leben se i n. In einem anderen Lager, aber am Leben«, stieß D r. Gold m ann hervor, und gleichzeitig wußte er, wie schwach dieser Trost war. Martinas Freundin,
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