Unter dem Zwillingsstern
daß dir Dr. Gold m ann soviel Taschengeld gibt.«
Robert schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe die Kette versetzt, die du m i r dagelassen hast«, entgegnete er m it der größten S elbstverständlichkeit, »schon vor W ochen, weil ich d i ch überra s chen wollte und dachte, ich m üßte deine W ärterinnen bestechen.«
Die E m pörung darüber, daß er so ohne weiteres über Annis Kette, ihr Eigentum, verfügt hatte, nahm ihr einen Mo m ent d e n Ate m . Gleichzeitig dachte sie, wie günstig es war, jetzt Bargeld zur Verfügung zu haben und für ein paar T a ge von allen forschenden Augen und strengen Regeln befreit zu sein. A l so ließ sie es bei einer leichten Gri m asse b e wenden und zog ihre Schuhe aus, die sie in ihrer groben, plu m pen Art schon immer gehaßt h a tte, aber sie gehörten zur Schulunifor m .
»Du hast mir nicht zufällig neue Schuhe von meinem Geld gekauft ? « erkundigte sie sich hoffnungsvoll.
»Nein. W as ist m it denen, die du letzten Dezember angehabt hast? Überhaupt«, schloß Robert fach m ä nnisch, »mußt du diese Schul m ädchenklamotten ausziehen, bevor wir in Berlin ankom m en und ein Hotel suchen, sonst lassen die m i ch nie m it dir rein.«
»Das Zeug vom letzten W i nter ist mir m ittl e rweile zu klein u nd zu eng«, gab sie ärgerlich zurück, aber sie holte ihren Koffer wied e r vom Gepäcknetz herunter und klappte ihn auf, während Robert die Vorhänge des Abteils zuzog. »Du bist nicht der einzi g e, der wächst.«
»Nein«, erwiderte er, und das Grinsen kehrte in sein Gesicht zurück, während sie aus ihrer Uniform schlüpfte und darum k ä m pfte, die Knöpfe ihrer alten Bluse zu sc h ließen, »aber ich wachse nicht an so… interessanten Stellen. Laß die oberen Knöpfe nur offen, dann glauben die m i r sofort, daß ich dich irgendwo in einer Bar aufgegabelt habe, und nicht bei den evangelischen Nonnen von Hohencre m .« Sie streckte ihm die Zunge heraus, aber insgeheim war sie nicht unzufrieden m it d e m B i ld, das sie schließlich abgab. Daß die Bluse jetzt eng anlag und nicht m ehr bis zum Kragen geschlossen und der Rock um e i niges kürzer war, ließ sie erwachse n er wirken. Der Stoff war etwas zu warm für den Som m e r und die S chuhe tatsächlich zu klein s i e hatten im letzten Jahr bereits nur noch knapp gepaßt -, aber in dem winzigen Spiegel, den sie Robert in die Hand drückte, sah sie eine junge Frau und kein Kind m ehr.
»Geh noch ein bißchen weiter zurück, und halt ihn etwas schräger!«
» W eißt du, wie m an das nennt? Nar-ziß- m us!«
»Du m ußt es ja wissen.«
Sie lächelten einander an, plötzlich überzeugt, überleben zu können.
Robert hatte genug Erfahrungen m it Reisen. In den letzten Jahren m it seinem Vater war e r es gewes e n, der sich um Fahrpläne, Hotelzim m er und Rechnungen geküm m e rt und dara u f geachtet h atte, daß sie nicht bestohlen wurden. Doch d i e kurze W o che in Berlin, in d er er und Carla zwischen quälenden Schuldgefühlen und einem harten, befreiten Glück das Entkom m en aus ihrer Kindheit begingen, unterschied s ich völlig von d em bisher Erlebten.
Zunächst ein m al m achte es Spaß und war befriedigend, der Ortskundige zu sein und ihr alles zeigen zu können, von den Bars und den Kabaretts bis zu den großen Theatern, die leider saisonbedingt geschlossen waren. Dann bereitete es ihnen beiden ein boshaftes Vergnügen, von nie m andem durch s chaut zu werden; keiner kam dahinter, daß sie erst v i erzehn waren. In dem Hotel zwinkerte der Concierge ihnen zu, als sie sich unter »Herr und Frau Sch m id t « eintrugen, aber das war auch alles. Sie suchten beide einige Bekleidungsgeschäfte auf, denn ihm hatte in M ü nchen die Z eit gefehlt, um m ehr als das Nötigste einzupacken. Carla kaufte sich Hosen, die ihre langen Beine betonten, eines der neumodischen, schockierend kurzen Kleider, die nur bis zu den Kni e n reichten, und hochhackige Schuhe, die sie allerdings dazu zwang e n, ihren gewohnten schnellen Schritt in ein langsa m eres, d a menhaftes Schreiten zu v erwandeln, wie sie es als Kind m i t Annis Schuhen geübt hatte. Für m e hr genügte das Geld, das schließlich die ganze W oche l ang reichen sollte, nicht, aber nachdem sie einige der weiblichen Gäste in dem Hotel, wo sie wohnten, beobachtet hatte, kam Carla auf die Idee, sich m it Annis Augenbrauenstift Nähte auf d i e Beine zu m alen, da m it es so aussah, a l s trüge sie Strü m pfe.
In der ersten Bar, in die sie
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