Unter Den Augen Tzulans
entladen. »Es war nicht rechtens«, grollte er leise.
Matuc schaute alarmiert zu seinem Zögling. »Nicht, Lorin! Beherrsche dich.«
Voller Empörung schlug der Knabe gegen das Bett, und die Magie löste aus. Kaum traf seine Hand auf das Holz, glühte die Faust für einen Lidschlag bläulich auf. Der Rahmen zerbarst in eine Unzahl von Splittern, ohne dass jedoch jemand außer ihm verletzt wurde. Nur ihm steckte ein scharfkantiges Holzstück zwischen den Knöcheln.
»Es tut mir Leid«, stammelte er, selbst überrascht von der Wirkung seines Treffers. »Das ist noch nie passiert. Normalerweise kann ich das nicht. Ich verstehe nicht …«
»Ist alles mit dir in Ordnung?« Fatja eilte herbei, schaute zuerst zum Mönch und danach zu dem Knaben. »Das sieht aber gar nicht gut aus.« Vorsichtig entfernte sie den Fremdkörper aus der Hand des Jungen, eine Blutperle entstand. Ein Teil des Holzes jedoch brach ab und verharrte unter der Haut. »Wir sollten besser zu Kalfaffel gehen, damit er mit seiner Magie etwas dagegen unternimmt Nicht, dass du dir eine Sehne verletzt hast.«
Voller Überraschung beobachteten beide, wie sich ein neuerliches Leuchten um die verletzte Stelle legte. Der zurückgebliebene Splitter schob sich auf magische Weise aus dem Fleisch und fiel zu Boden, danach schloss sich die Wunde. Zurück blieb eine leichte Kruste, die nach ein wenig Kratzen abfiel. Darunter präsentierte sich eine vollständig abgeheilte Hautstelle.
»Vergiss Kalfaffel«, meinte Fatja trocken. »Und nun an die Arbeit. Die Schrift verschwindet nicht von selbst. Aber ich weiß nun, dass du niemals mit der Ausrede ankommen kannst, du hättest dich verletzt.«
»So ein Mist«, ärgerte sich Lorin und bewegte die Finger seiner Hand in schneller Reihenfolge. »Das wäre die Gelegenheit gewesen.«
»Wenigstens hat diese Magie doch noch etwas Gutes«, meinte Matuc. »Aber mir kam eben ein Gedanke. Wenn es nichts aus dem Meer zu holen gibt, sollten wir helfen, dass die Menschen nicht hungern müssen.«
»Was hast du vor?«, wollte die Schicksalsleserin wissen.
»Das wirst du bald sehen, wenn es gelingt«, sagte der Geistliche. »Es ist mit einem gewissen Wagnis verbunden, das ich aber eingehen muss. Ich werde euer aller Hilfe benötigen, und der Gerechte wird seinen Segen dazu geben. Noch einmal wird er die Stadt nicht dem Hungertod überlassen. Wenn die Kalisstri seine Güte erkennen, preisen sie ihn, wie ich es Kiurikka vorhergesagt habe.«
Fatja legte die Stirn in Falten, während sie die Splitter der Fensterscheiben zusammenkehrte. Auch wenn der Mönch mehr als zuversichtlich klang, sie wollte den Enthusiasmus nicht teilen.
Sie machte sich Sorgen um die Zukunft ihres kleinen Bruders, und die Erinnerungen an die düsteren Visionen, die sie einst heimgesucht und sie an den Rand ihres Verstands gebracht hatten, stiegen unaufhaltsam aus der Tiefe ihres Gedächtnisses.
Sicher, gelegentlich zuckten neue Blicke in die Zukunft auf, wenn sie Lorins blaue Augen betrachtete. Doch von solcher Intensität wie einst in Tarpol waren die Visionen schon lange nicht mehr, was die Schicksalsleserin nicht unbedingt unglücklich machte.
Aber anscheinend würde es bald wieder an der Zeit sein, ihre Gabe herbeizuzwingen, um dem Bösen einen Schritt voraus zu sein. Was immer sie auch sehen würde.
VIII.
Und nachdem die Seherin viele Wochen unterwegs gewesen war und manches Abenteuer erlebt hatte, traf sie auf den Zweifler.
Der Zweifler trug Schuld auf sich und hatte seinen Glauben an Ulldrael den Gerechten verloren.
Und wieder blickte die Seherin in die Zukunft und betrachtete sein Schicksal.
›Bruder Matuc, du hast noch einige Aufgaben vor dir. Von dir wird das Schicksal eines Kindes abhängen. Ein wichtiges Schicksal, das Licht in die drohende Nacht bringen kann. Aber es wird dauern, bis dieser Tag gekommen ist. Und nur mit deinem Wirken wird sich die Dunkle Zeit vertreiben lassen, wenn sie kommt.‹
DAS BUCH DER SEHERIN
Kontinent Tarpol, Nordgrenze des Königreichs Ilfaris, Eispass, Winter 457 n.S.
Osbin Leod Varèsz schüttelte einmal mehr den Kopf, als er vom provisorisch eingerichteten Ausguck in Richtung der Festung Windtrutz blickte. Er konnte sich einfallen lassen, was er wollte, dieser Kommandant Hetrál wusste auf alle seine Sturmversuche eine passende Erwiderung.
Seit einem halben Jahr rannten die Truppen unter seiner Führung gegen die Burg an, sie hatten es mit brachialer Gewalt und mit List versucht, mit Sturmleitern,
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