Unter den Linden Nummer Eins
drischt sie Karten. Da kann sonstwat passieren.« Er verteilte die Schnapsgläser.
Es bimmelte an der Gartentür. Vera öffnete das Küchenfenster. Es waren die Nachbarn. Sie hatten einen Blechkuchen gebacken: Bienenstich.
»Rein mit euch!« sagte Vera.
»Schnäpperken?« fragte Vater Binder und wartete die Antwort nicht ab, sondern schenkte einfach ein. Als Rosi noch auftauchte, mußte sie auf dem umgedrehten Waschkessel sitzen. Sie hatte eine Schüssel Vanillepudding mitgebracht.
»Mensch, Karl«, sagte Theo Höhne. »So stell ich mir das Essen im Adlon vor: Suppe vorweg, Fischgang, Nachtisch, Kuchen und Verdauungsschnaps.«
Karl griff nach der Puddingschüssel und kratzte sie aus. »Im Adlon hätten die Leute die Krebsscheren mit extra Krebsgabeln ausgepult, anstatt die Finger zu benutzen, und wären dabei fast verhungert, so mühsam ist das Vornehmsein.«
Rosi lachte. »In Eckernförde kam jeden Tag so ein feiner Pinkel zu uns, der hatte einen goldenen Sektquirl. Damit hat er den Champagner durchgerührt.«
»Nich zu fassen, wat? Da zahlt man ’n Vermöjen, damit det Zeuch richtich perlt, und so ’n Heini quirlt die Bläschen raus!« Benno schlug sich auf die Schenkel. »Na, Rosi nich blöd, sagt: ›Süßer, det kann ick doch für dich machen!‹, und tauscht die Champagnerjläser immer jejen ’nen ordinären Weißwein aus, wenn der Kerl jerade wegglotzt. Aber meent ihr vielleich, der hätte wat jemerkt?« Benno kicherte. »Keene Spur! Immer runter mit’m Weißwein, und Benno süffelt wochenlang Champagner zu zwanzich Mark die Pulle!«
Karl hob sein Glas. »Auf das einzigartige und unnachahmliche Hotel von Mutter und Vater Binder – immer geöffnet!«
»Auf die Krebse!«
»Uff den Bienenstich!«
»Auf den Pudding und den Schnaps!«
»Und die Suppe!«
Vera kraulte Karl zärtlich den Nacken, denn sie wußte, daß ihr Karlchen es ehrlich gemeint hatte.
22.
S TURMZEICHEN
Das Kindergeplärre in der Wohnung über ihm war eine herbe Zumutung. Wenn Karl im Morgengrauen von der Nachtschicht nach Hause kam, war oben bereits der Teufel los. Frau Müller war auf das Mutterkreuz aus, denn obwohl das dritte Kind gerade erst laufen gelernt hatte, stolzierte sie schon wieder mit einem dicken Bauch umher. Karl erwog ernsthaft den Gedanken, in eine ruhigere Wohnung umzuziehen.
Trotz Schwangerschaft und Nachwuchsaufzucht fand Frau Müller Zeit zum Fahnenschneidern. Selbst wenn keine Beflaggung angesagt war, hingen vom Balkon drei Swastika-Banner mit handgestickten Goldlettern: Die Saar ist deutsch. Das Rheinland kehrt heim. Wiedervereint mit Österreich.
Nun bastelte sie an einer vierten Fahne: Sudetenland ist Heimatland.
Herr Müller, Träger des goldenen Parteiabzeichens, grüßte nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Karlsbad als einziger im Haus auch privat mit dem Deutschen Gruß.
Eines Tages geschah ein Wunder. Ein Möbelwagen fuhr vor, und die Müllers zogen aus. Von seiner Mutter erfuhr Karl später, daß sie in der ehemaligen Praxis von Doktor Nußbaum wohnten. Doktor Nußbaum war, solange Karl zurückdenken konnte, der Hausarzt der Familie Meunier gewesen.
Frau Meunier war erschüttert. »Als dein Vater im Sterben lag, kam er täglich vorbei und hat nach ihm geschaut. Und nun darf er nicht mehr praktizieren, bloß weil er Jude ist!«
»Die Binders sind auch seine Patienten. – Ist er noch in Berlin?« Frau Meunier wußte es nicht.
Vera traf ihn zufällig auf der Paßstelle. Ihr Reisepaß war abgelaufen, und sie mußte ihn verlängern lassen, weil sie sich wieder mit ihrem Bruder in Kopenhagen treffen wollte.
Karl wartete in einem Café in der Badstraße auf sie. Er war der einzige Gast. An der Art, wie sie ihre Handtasche auf den Boden warf, sah er sofort, daß sie sich aufgeregt hatte. Er ließ die Zeitung sinken. »Was ist?«
»Doktor Nußbaum. Er war auch auf dem Paßamt. Er geht zu seiner Tochter in die Staaten. Als wir auf der Straße waren und niemand in der Nähe war, hat er mir seinen Paß gezeigt. Auf die erste Seite war ein großes ›J‹ gestempelt. ›Schauen Sie mal, Fräulein Binder, wie ich jetzt heiße: Israel Helmut Nußbaum.‹ Ihm haben die Tränen in den Augen gestanden. ›Sie müssen nicht denken, Fräulein Binder, daß ich wegen Israel traurig bin. Israel und Sara , das sind schöne Namen. Nein, ich weine, weil der Paßbeamte eben vorgegeben hat, mich nicht zu kennen. Er hat sich mit seinem Kollegen sogar über mich lustig gemacht.‹ Und dann, Karl, hat der
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