Unter den Linden Nummer Eins
Ihnen noch nie etwas zurückgehen lassen.«
»Und so soll es bleiben.« Louis Adlon deutete eine Verbeugung an. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden …«
»Gehen Sie nur, mein Lieber! Bis Tron-Herman wieder zurück ist, leiste ich mir den Luxus und träume ein wenig mit offenen Augen.«
»Ich hoffe sehr, unser Ambiente inspiriert Sie zu angenehmen Träumen«, sagte Louis Adlon und ging, um in einer anderen Ecke des Lese- und Schreibsaals die honneurs fortzusetzen, nicht ohne vorher durch den Saalpagen eine Botschaft an den Oberkellner zu übermitteln.
Die Wünsche des Generaldirektors bezüglich Holtsens Träume gingen in Erfüllung. Der Schwede sah vor seinem geistigen Auge eine selten gewinnbringende Zukunft, falls die NSDAP in nächster Zeit an die Macht kommen würde.
9.
D IE G ESCHWISTER V ENDURA MIETEN EINEN Ü BUNGSRAUM AN
Obgleich oder gerade weil Karl am Ende seines ersten Arbeitstags der Schädel brummte, entschied er sich, noch zum Training zu gehen. Als er den Übungskeller betrat, waren alle schon auf der Matte. Das Kellergewölbe war außerordentlich hoch, an die fünf Meter. Die Wirkung des Kanonenofens hielt sich in Grenzen. Karl kleidete sich zügig um und machte sich in einer Mattenecke im Schnelldurchgang warm: Liegestütz, Kniebeuge, Rumpfbeuge, dann wieder ein Liegestütz, eine Rumpf-, eine Kniebeuge, und so fort. Nach fünf Minuten war er naßgeschwitzt und hielt Ausschau nach einem freien Partner. Alle übten gerade Abwehr eines Messerangriffs von oben. Karl stellte sich zu Erich Rahn, dem Meister, der an Benno einen neuen Gelenkhebel ausprobierte.
»Autsch!« Benno verzog das Gesicht.
»Aber, aber, so wild war das doch nicht«, sagte Rahn.
»Von wegen!« Er warf Karl das Holzmesser zu. »Mach du mal.«
Karl zielte mit nach unten zeigender Messerspitze auf Bennos Halsschlagader. Benno ergriff den Messerarm von oben, packte mit beiden Händen in Pulshöhe zu, drehte sich nach rechts und hob den Arm, mit Karls Ellenbogenbeuge nach oben zeigend, gestreckt auf seine linke Schulter. Das Ellenbogengelenk war blockiert, um den Schmerz zu lindern, mußte Karl auf die Zehenspitzen. »Autsch!«
»Siehste?« sagte Benno.
»Nee«, sagte Karl, »aber merken tu ich’s!« Das Messer entglitt ihm.
Benno gab den Arm frei.
»Echt nicht von schlechten Eltern, dieser Hebel, laß mich mal«, sagte Karl. Er hob das Messer auf und warf es Benno zu. Benno griff an.
Karl verpatzte die Übung, verfehlte Bennos Handgelenk. »Mist, komm noch mal, Benno!«
Wieder stieß Benno zu, wieder packte Karl daneben.
»Wat is’n los, Karlchen?«
»Ach, bin irgendwie nicht bei der Sache.«
»Kaum jeht der Mensch ’n Tag lang eener geregelten Arbeet nach, versachter beim Turnen«, frotzelte Benno. »Mensch, reiß da zusammen!«
Karl nickte mit zusammengekniffenen Lippen. Beim dritten Versuch klappte der Armhebel endlich. Karl war nun konzentrierter und leistete sich keine Patzer mehr.
An der Stirnwand des Übungsraums hing eine große runde Uhr, wie man sie auf Bahnhöfen oder in öffentlichen Gebäuden fand. Erich Rahn beobachtete den Minutenzeiger. Als er die volle Stunde anzeigte, klatschte er in die Hände. »Schluß für heute, Freunde!«
Alle eilten zum Mattenrand und knieten sich hin. Es wurde still im Kellerraum.
Über eine Dusche verfügte die Sportschule Rahn nicht, dafür über mehrere Wasserhähne, aus denen es kalt tröpfelte. Karl gab Benno die zwanzig Mark zurück: »Hab mir Vorschuß geben lassen.«
»Dann kannste ja gleich im Turm eenen ausjeben!«
»Leute, habt ihr gehört, Karl will einen ausgeben!« rief Erich Rahn.
Karl wurde von seinen Sportsfreunden umringt. »Na, da sind wa doch mit vonner Partie!«
»Laßt mir bitte was von Karls Geld übrig, damit er mir nachher auch ein Bier spendieren kann«, sagte Erich Rahn. »Ich muß erst den neuen Untermietern noch erklären, wo sie immer den Schlüssel abholen können, wenn wir kein Training haben. – Ich glaube, da sind sie schon.« Die Eingangstür zum Trainingsraum war ins Schloß gefallen. Erich Rahn verließ den Umkleideraum. Karl steckte neugierig den Kopf durch die Tür. Ein älterer Mann und drei Frauen, alle höchstens Anfang, Mitte Zwanzig, zogen ihre Schuhe am Mattenrand aus. Die Frauen, eine schwarzhaarige und zwei blonde, trugen dunkelblaue, baumwollene Trainingshosen unter den Röcken.
»Untermieter?« fragte Karl.
»Artisten«, sagte Benno. »Janz bekannte sojar. Die Jeschwister Vendura, oder so ähnlich. Warn
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