Unter den Linden Nummer Eins
Rehrücken Baden-Baden und Pariser Eisbombe. Die Damen ließen die Hälfte ihrer Portionen zurückgehen, denn sie gaben vor, auf die »Linie« achten zu müssen; die Herren hatten auch Gewichtsprobleme, scherten sich aber weniger darum und spülten ihr Essen mit reichlich Gurgelwasser – so nannten sie, sich zuzwinkernd, den Sekt – hinunter, pulten selbst den kleinsten Fitzel aus den Hummerscheren und ließen sich von den Obern die Fleischportionen reichlich mit cremiger Trüffelsauce begießen.
Der englische Journalist hatte im Wedding ein Foto geschossen, auf dem eine Frau in Zeitungspapier gewickelte Heringsschwänze im Einkaufsnetz aus dem Fischladen trug. Es war der Familiensonntagsbraten.
Karl und Vera litten keine Not. Karl verdiente gut, und die Trinkgelder waren nicht zu verachten. Auch Veras Gagen konnten sich sehen lassen. Sie führte großzügig in Mutter Binders Haushaltskasse ab. Karl unterstützte seine Mutter, indem er etwas auf die spärliche Witwenrente legte. Trotz alledem blieb genug Geld übrig, was nur wenige Menschen in Karls und Veras Bekanntenkreis sagen konnten.
Hans war in Schweden und hatte eine Arbeitserlaubnis bekommen. Onkel Ewalds Geschäftsfreund in Göteborg hatte seine Beziehungen spielen lassen. Über die Toten auf der Millionenbrücke erschien dann doch noch eine magere Zeitungsmeldung. Die Morgenpost vermutete eine Fehde zwischen rivalisierenden Hehlerbanden aus dem Gesundbrunner Kiez. Die nationalsozialistische Presse schwieg weiterhin zu dem Vorfall. Hans war jedenfalls in Sicherheit.
Louis Adlon zog sich mehr und mehr aus dem Tagesgeschäft zurück und überließ seiner Frau die Regie.
Die Generaldirektorin war ein Arbeitstier. Sie war die organisatorische Seele des Hauses. Niemand hatte es L. A. gegenüber an Respekt fehlen lassen, vor Hedda aber stand man stramm. Ihre bissigen Bemerkungen waren gefürchtet. Bei Unbotmäßigkeiten war sie rigoros. Ein Etagenkellner hatte zweimal die Signallampe eines prominenten Gastes übersehen. Der Gast hatte sich beschwert. Der Kellner wanderte einen Monat zur Bewährung in die Spülküche. Zu Karl war Heddas Ton gleichbleibend geschäftsmäßig kühl und distanziert. Es gab auch nichts an seiner Arbeit auszusetzen. Die Adlon -Gäste, die Karl einmal in der Vergangenheit betreut hatte, waren zufrieden mit Monsieur oder Mister Charles und forderten ihn bei ihren Berlinbesuchen regelmäßig wieder an.
Die Zusammenarbeit mit Lilo Fleischer verlief reibungslos. Ein dritter Kollege, der sich um Sicherheitsbelange kümmerte, war noch nicht gefunden, aber bis auf fehlende Kuchengabeln und Mokkalöffel gab es für die Detektive wenig Handlungsbedarf. Im Keller und in der Weinhandlung waren keine Fehlbestände mehr aufgetreten. Kassner hatte eine lukrativere Geldquelle angezapft. Karl hatte dem Generaldirektor nichts von dessen Waffenschiebereien berichtet. Die Trumpfkarte in Form des Kaufvertragdurchschlages hatte er zusammen mit Hans’ Pistole an einem sicheren Ort deponiert. Diese Karte jetzt schon zu ziehen erschien ihm verfrüht. Zu unberechenbar waren die politischen Implikationen.
Hindenburg wurde von Hitler hofiert und gab sich staatsmännisch besonnen. Dennoch hatte sich etwas verändert in Berlin. Die Wandlung war schleichend und keinesfalls allseitig erdrückend, aber dennoch irgendwie täglich spürbar.
Karl merkte es an der Atmosphäre im Adlon . Vermehrt steckte das NSDAP-Abzeichen an den Revers von sowohl Bediensteten als auch Gästen, und Kassners Liste im Kurierzimmer wurde länger.
Zwei Kochlehrlinge verließen das Haus vor Beendigung des dritten Lehrjahres. Von Obier, dem Kellermeister, erfuhr Karl unter dem Siegel der Verschwiegenheit, daß Louis Adlon ihnen, entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten, ein gutes Zeugnis und handschriftliche Empfehlungsbriefe an ein berühmtes amerikanisches Haus ausstellen wollte.
Kassner hatte sichtlich Oberwasser.
»Es fehlt nicht viel, und er fällt jedem Gast mit ’nem Bonbon am Jackett um den Hals!« Obier dekantierte eine Sherry-Flasche für das Adlon -Café. »Bei mir läßt er sich zum Glück nicht mehr blicken.«
Karl gab dem Kellermeister das Warenbuch zurück. »Ich hab es da nicht so gut. In der Halle begegnet man ihm ständig.«
Obier verschloß das Buch in der Schreibtischschublade. »Na, alles rechtens?«
»Mir ist nichts aufgefallen. Dir?«
»Nix, seit Fretzel weg ist.« Er stellte einen kleinen Sherry vor Karl.
Karl kostete. »Nicht zu verachten! – Dafür
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