Unter den Linden Nummer Eins
wie ein Möbelpacker. Und er war nicht alleine. Zusammen mit drei Kollegen drängelte er sich durch die Schaulustigen zur Fahrbahn. Der SA-Mann suchte eiligst das Weite.
»Die Braunhemden sind immer nur in der Horde stark«, sagte Vera.
Ihr Bus war in Sicht. Karl knurrte etwas von kackbraune Flitzpiepe und zog Vera weiter. Im Einser bis zum Alex erzählte er ihr von seinem Tag und wie er zu der Sektflasche gekommen war.
»Ist ja Klasse, Sekt paßt auch zu unserem Essen. Ich hatte Weißwein besorgt.«
Aber was sie vorbereitet hatte, verriet sie nicht, obwohl ihr Karl allerhand ins Ohr flüsterte.
In der Florastraße half er Vera aus dem Mantel, streifte die Schuhe ab und schlüpfte in seine Filzpantinen. Es roch würzig nach Huhn. Vera verschwand in der Küche. Karl wollte hinterher.
»Raus! Wehe, du schielst! Fang lieber schon an, den runden Tisch zu decken!«
Karl deckte ein, stellte den Sekt auf den Balkon und machte es sich in seinem Lieblingssessel mit Hermann Hesse gemütlich. ›Hat auch gewisse Vorteile, wenn man kein reines Harry-Haller-Leben führt‹, dachte er, während der Steppenwolf gerade unbeweibt durch seine Kleinstadt wanderte.
Durch die Küchentür drangen vielversprechende Kochgeräusche. Hin und wieder sang Vera einen Schlagerfetzen. Als sich endlich die Küchentür öffnete und Vera mit dem großen Serviertablett in den Flur trat, trällerte sie: »Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus …«
»Meine verehrte Freundin findet doch immer passende Worte des Trostes!«
»Is ja noch ’n Weilchen hin, Karlchen.« Ihr Blick fiel auf den Hesse. »Dann kannste ungestraft Harry Haller spielen, soviel du willst! – Aber nun mach mal rasch mit dem Sekt und laß uns anstoßen!«
Karl holte den Sekt. Auf dem Tisch standen zwei köstliche dampfende Suppenschalen.
»Hühnerbouillon mit Eierstich. Das läßt sich ja gut an!« Er entkorkte die Flasche. Vera hielt ihr Glas hin.
»Auf meine kochkundige Freundin!«
Sie stießen an.
»Auf uns, Karlchen!«
Karl aß die Suppe und schaute Vera tief in die Augen. »Können Suppen Gedichte sein, Vera?«
»Hör auf, mich zu veralbern!«
»Ich meine es ernst!«
Vera kicherte. »Dann versuch wenigstens, nicht wie ein treuherziger Cockerspaniel dreinzuschaun! Lies noch ein bißchen, während ich dem Hauptgericht zur poetischen Ehre verhelfe.«
Sie räumte die Suppentassen ab. Karl holte sich sein Buch. Harry Haller saß in einer Wirtschaft und speiste:
Ich liebe am meisten ganz reine, leichte, bescheidene Landweine ohne besondere Namen, man kann viel davon vertragen, und sie schmecken so gut und freundlich nach Land und Erde und Himmel und Gehölz.
Karl rief: »Was für Wein hast du gekauft?«
»Einen leichten Franzosen. Wir haben den gleichen im Oriental . Du mochtest ihn«, ertönte es aus der Küche. »Ganz einfacher Landwein.«
»Aha!« sagte Karl und las weiter:
Nun hatte ich schon eine Portion Leber in mir, aparter Genuß für mich, der selten Fleisch ißt, und hatte den zweiten Becher vor mir stehen.
Aus der Küche drang der Geruch von gerösteten Zwiebeln. Karl goß sich Sekt nach und sagte: »Vera? Gibt es etwa Leber?«
Vera riß die Küchentür auf. »Schurke, du hast doch ge…«
Aber Karl hatte nicht spioniert. Er saß am Eßtisch und hielt das Buch hoch. »Bin absolut unschuldig! Harry Haller spachtelt gerade Leber auf Seite 39.«
Vera brachte die Teller. Dünne Kalbsleberscheiben mit gedünsteten Apfelscheiben, garniert mit goldbraunen, knusprigen Zwiebelringen, dazu Kartoffelpüree.
»Bist ja doch ein Hellseher!«
Karl setzte eine bornierte Miene auf. »Tja, Teuerste. Andere Leute werfen das I-Ging, wieder andere deuten Kaffeesatz oder gießen Blei; ich bevorzuge Hesse.«
»Was sagt denn dein Hesse über den Nachtisch?«
Karl nahm ihren Arm und küßte ihr die Handfläche.
»Ätsch, falsch! Es gibt Birnen mit Schokoladensauce!«
»Oh«, sagte Karl. »Davon war im Buch aber nicht die Rede!«
Während Karl die Dessertteller abräumte, streckte sich Vera auf dem Sofa aus und schlug Bindings Moselfahrt aus Liebeskummer auf. Karl brachte ihr das Weinglas, stellte es auf einen Stuhl neben das Sofa.
»Danke! – Fünf Seiten noch, dann hab ich’s fertig.«
Karl hockte sich im Schneidersitz in seinen Sessel und rauchte eine Muratti.
Als Karl seine Zigarette ausdrückte, ließ Vera das Buch auf den Teppich gleiten. »Finis. Sie haben sich natürlich nicht gekriegt. Puh!« Sie verdrehte die Augen. »Er ist zurückhaltend,
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