Unter den Linden Nummer Eins
fast schüchtern. Dagegen ist der Steppenwolf ein richtiger Draufgänger. Und sie ganz abgeklärt. Nee, Karlchen, das waren keine Helden nach meinem Geschmack. Alles ist ein bißchen schwülstig geschrieben. Er nennt sie seine Zigeunerin , und so weiter.«
Karl stand auf und ging in die Küche. Vera hörte, wie er am Kohlenkasten hantierte.
»Was planst du, Karlchen?«
»Ich hab seit Tagen im Schlafzimmer nicht mehr geheizt.«
»Na, dann geh mal rein!«
Karl öffnete die Tür. Mollige Wärme strömte ihm entgegen.
8.
F OTOGRAF F RÖSCHL BANGT UM K AMERA UND K RONLEUCHTER
Am nächsten Morgen schliefen sie lange, erwachten erst, als der Bolle-Wagen vor dem Haus bimmelte. Vera zog die Vorhänge auf. Ein Stück blauer Himmel hatte sich über Pankow verirrt. »Kohlen aus dem Keller holen, einheizen, zum Bäcker gehen und Brötchen kaufen, oder Kranzler , Monsieur Charles?«
»Wie Madame befehlen!«
Sie stiegen Friedrichstraße aus und schlenderten bis zu den Linden. Im Kranzler fanden sie einen Fensterplatz. Der blaue Himmelsfleck war in Pankow geblieben.
Vera aß bereits das dritte Brötchen und bestellte sich noch eine Lage Schinken nach. Karl beließ es bei einem Croissant und einem ungezuckerten Schwarztee. Seit er nicht mehr regelmäßig zum Ju-Jutsu ging, hatte er ein paar Kilo zugenommen. Vera indes konnte essen, was sie wollte, sie blieb schlank.
»Komm, Karlchen, iß wenigstens noch das Mohnbrötchen, ist Sünde, wenn man was übrigläßt.«
»Dieses Wort habe ich ja noch nie aus deinem Mund gehört. Sünde! Seit wann bist du denn religiös?«
»Hat nichts mit Religion zu tun. Nur mit Sattwerden.«
»Herzchen, wenn ich das alles verschlingen würde, was du in dich hineinstopfst, wär ich bald dick wie eine Tonne.«
»Na und?«
»Was, und? Benno spielt heute wieder Schlachtefest mit mir auf der Matte.«
»Du solltest im hohen Alter eben etwas kürzertreten mit deinem sportlichen Ehrgeiz oder dir was Geruhsameres suchen. Wie wäre es mit Boccia oder Angeln?«
Karl sagte mit gespielter Entrüstung: »Die junge Dame möge ihre Zunge hüten, sonst …!« Er ließ seine Serviette fallen und zwackte Vera in die Wade.
»He!« sagte sie.
Ein älteres Ehepaar am Nachbartisch blickte pikiert herüber. »Karlchen, du bist manchmal einfach unmöglich!« Sie mußte lachen.
Karl machte ein betont unbeteiligtes Gesicht, dann lachte er auch.
Das Ehepaar begann miteinander zu tuscheln.
Karl hatte volles Haar, war kräftig gebaut, und der Bauchansatz war sehr bescheiden im Vergleich zu anderen Mittvierzigern. Rein rechnerisch konnte Vera seine Tochter sein, aber wer die beiden zusammen sah, vermutete nicht einen Altersunterschied von genau zwei Jahrzehnten.
Vera verzehrte noch genüßlich die Salatdekoration und schob den Teller weit von sich weg. »Uff, geschafft!«
Karl zückte die Brieftasche. »Und jetzt?«
»Ich muß zum Fotografen, die Bilder abholen, die er von der neuen Rollschuhnummer gemacht hat. Ist ganz in der Nähe. Kommst du mit?«
»Wo ist der Fotograf?«
»In der Rosmarinstraße.«
»Einverstanden. Ich wollte sowieso bei Asher und Co . vorbeischauen. Vielleicht ist der Reiseführer ja schon da.« Karl ließ seine Taschenuhr aufschnappen.
»Wie spät ist es?«
»Kurz nach zwölf.«
»Schon? Dann laß uns mal. Ich bringe nach dem Fotografen die Bilder gleich zu Birgit und Doris. Unsere Schneiderin kommt mit den neuen Trikots. Für den Fototermin waren sie bloß provisorisch zusammengeheftet gewesen. Toller Schnitt und ganz viel Straß.«
»Und vermutlich jugendgefährdende Ausschnitte.«
»Hat, hat!« sagte Vera und reckte sich. »Wollen wir?«
Karl zahlte und half Vera in den Mantel, gab ihr einen Kuß auf die Wange und flüsterte: »Wenn ich dich jetzt ein bißchen angrabbeln würde, würde dem Herrn und der Dame am Nebentisch bestimmt vor Entrüstung das Besteck aus der Hand fallen, so gucken sie schon!«
Vernehmlich sagte Vera: »Bitte nicht grabbeln, Karl!«
Das Ehepaar zuckte zusammen. Kichernd verließen Karl und Vera das Kranzler .
Sie überquerten die Linden. Die Schuhputzer auf dem Mittelstreifen konnten ausnahmsweise nicht über mangelnde Kundschaft klagen. Politiker, Diplomaten, Journalisten und Geschäftsleute aller Herren Länder strömten noch immer in die Hauptstadt, um der neuen Regierung ihre Aufwartung zu machen. Besonders beliebt bei den Schuhputzern waren die ausländischen Kavallerieoffiziere. Schaftstiefel brachten das Doppelte von Halbschuhen. Ein
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