Unter den Linden Nummer Eins
erholte sich rasch, trotz des verbotenen Biers. Die Grippewelle in Berlin ebbte ab. Ein anderer Virus bemächtigte sich der Hauptstadt und des Deutschen Reichs. Und er breitete sich rasant aus.
Goebbels wurde Chef des neugegründeten Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, Himmler gab die Errichtung eines permanenten Konzentrationslagers in Dachau bekannt, Vater Binders Zeitungsauswahl am Kiosk reduzierte sich zusehends.
Das Ermächtigungsgesetz passierte mit Zweidrittelmehrheit gegen die Stimmen der SPD-Fraktion den Reichstag, Hindenburg unterschrieb. Hans verlobte sich in Göteborg, schrieb: »Bei allem, was ich hier so in den Zeitungen lese, vergeht mir fast das Heimweh.«
Ein von NSDAP und Propagandaministerium organisierter Boykott unter der Parole »Deutsche, wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!« – die Plakate klebten an allen Berliner Litfaßsäulen – brachte nicht die beabsichtigte Wirkung. Besonders die ausländische Presse reagierte teils heftig. Jacob Asher von der Buchhandlung Asher und Co . hielt sein Geschäft während dieser Tage vorsorglich geschlossen. Kassner polemisierte unter der Belegschaft gegen die jüdischen Blutsauger . Zwei Etagenkellner aus dem Adlon kündigten. Kassner fand sein Auto mit zerstochenen Reifen auf dem Parkplatz.
Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums , der sogenannte Arierparagraph , verfügte in mehreren Ausführungsverordnungen die Entlassung aller jüdischen Honorarprofessoren und Privatdozenten. Auf Intervention Hindenburgs fielen jüdische Frontoffiziere vorerst nicht unter das Gesetz. Professor Blum wurde dennoch ständig auf unerträgliche Art und Weise von Kollegen und Studenten der Kaiser-Wilhelms-Universität schikaniert und ging in den vorzeitigen Ruhestand. Er nahm Kontakt zur Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland mit Sitz in Zürich auf. Als Karl ihn eines Tages besuchen ging, waren die Blums am Packen. Die Universität in Ankara bot nicht nur Professor Blum eine neue akademische Heimat. Der Sohn, Thomas Blum, ein freischaffender Künstler, zog mit Frau und Kind in die Nähe der dänischen Grenze.
An Karls 46. Geburtstag, es war der 10. Mai 1933, war Vera mit den Venduras auf Tournee in Leipzig. Karl feierte mit Benno nach der Arbeit in Opa Gieseckes Zur Sonne am Savignyplatz. Die Stimmung in der Kneipe war gedrückt. Jacob Asher berichtete mit stockender Stimme über die Bücherverbrennung auf dem Platz vor der Berliner Universität. Asher wohnte in der Grolmanstraße und war mit anderen Buchhändlerkollegen Stammgast in der Sonne .
Die Sprechchöre hatten gebrüllt: » Brenne, Heinrich Mann! Brenne, Erich Kästner! Brenne, Heinrich Heine! « Goebbels hatte den Feuerzauber in eigener Person geleitet.
Jakob Asher legte einen Stapel Bücher vor sich auf den Tisch. »Es ist ab sofort bei Strafe verboten, diese Bücher zur Schau zu stellen, zu verkaufen und zu verleihen. Ja, schon der alleinige Besitz ist strafbar.« Er schlug einen Heine-Band auf und zitierte: »Wo immer man Bücher verbrennt, wird man früher oder später auch Menschen verbrennen.«
Im Adlon hatte bereits vor Tagen jemand die verfemten Autoren aussortiert. Karl hatte sie in einer Abstellkammer hinter dem Lesesaal gefunden und die Bücher wieder in die Regale geräumt.
Als Karl Wochen später die Behrenstraße entlangschlenderte, war aus Asher und Co . die Buchhandlung Geipel geworden.
Hans schrieb: »Meine Lust, nach Deutschland zurückzukommen, schwindet täglich mehr, sowie ich bloß irgendeine Zeitung aufschlage. Ehe man mich dazu zwingen könnte, eine Hakenkreuzfahne aus dem Fenster zu hängen, würde ich den erstbesten Blockwart, der mir über den Weg läuft, aus dem Fenster hängen. Und das würde mir vermutlich nicht gut bekommen, wo jetzt Himmler Gestapo-Chef ist.«
Mehreren ausländischen Journalisten, die im Adlon logierten und die kritisch über die Entwicklung der deutschen Politik berichtet hatten, wurde von der Reichspressekammer amtlich mitgeteilt, daß » für ihre Sicherheit im Reich keine Gewähr mehr geleistet werden könne «. Es kam einer Ausweisung gleich. Die meisten der so Angeschriebenen verließen umgehend das Land. Der englische Berichterstatter, den Karl durch den Wedding geführt hatte, war härter gesotten als die meisten seiner Kollegen. Er ignorierte die Warnung. »Someone has to tell the truth about what’s going an in Goethe’s country, Mister Charles!«
Seine Artikel in der Times wurden immer
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