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Unter den Linden Nummer Eins

Unter den Linden Nummer Eins

Titel: Unter den Linden Nummer Eins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Ebertowski
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Nachbartisch sprang auf und rief entrüstet: »Das ist ja ungeheuerlich, man sollte die Polizei rufen!« Sie schwenkte das Olympia-Blatt.
    Ihre Begleiterin sah sie erschrocken an und stammelte: »Aber Hildchen, was ist denn? Beruhige dich doch!«
    »Beruhigen soll ich mich? Skandalös ist das! Kommunistische Machenschaften auf offener Straße! Unerhört!«
    »Die tickt nicht ganz richtig«, flüsterte Vera und pochte mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe.
    Karl grinste. »Meine Dame«, sagte er, »ich glaube, Sie mißverstehen da etwas! Es handelt sich bei diesem Zettel um eine mehrsprachige Werbung für das Fest der Völker . Nehmen Sie vielleicht Anstoß an der kyrillischen Grußbotschaft? Die Sportler aus der Sowjetunion sind selbstverständlich alle waschechte Kommunisten.«
    »Unsinn! Davon rede ich überhaupt nicht«, rief die Frau. »Dreckige Kommunistenpropaganda ist das!«
    Alle Köpfe auf der Terrasse drehten sich ihr zu. Der Geschäftsführer eilte herbei.
    Die Frau drückte ihm den Zettel in die Hand. »Unternehmen Sie augenblicklich etwas! Rufen Sie die Polizei!«
    »Die hat sie doch echt nicht mehr alle beisammen«, sagte Vera. Der Geschäftsführer versuchte, die Frau zu beschwichtigen. »Bitte, meine Dame! Worum geht es denn?«
    »Worum es geht? – Hier wurden soeben staatsfeindliche Flugblätter verteilt. – Da!«
    Der Geschäftsführer schaute auf den Zettel und schüttelte den Kopf. »Meine Dame, Sie irren sich. Das ist …«
    »Reden Sie kein dummes Zeug«, unterbrach die Frau ihn scharf. »Lesen Sie lieber, was auf der Rückseite steht!«
    Der Geschäftsführer drehte das Blatt um.
    »Nun?« rief die Frau triumphierend. »Ist das Bolschewistenhetze oder nicht?« Der Geschäftsführer setzte eine Brille auf.
    Vera hatte den Handzettel unter dem Aschenbecher hervorgezogen und las auch die Rückseite. »Sie hat recht, Karl. Das ist ein kommunistisches Flugblatt. – Mensch, haben die das pfiffig gemacht!«
    Karl las:
    Lieber Olympiade-Gast!
    Die Anwesenheit vieler Tausender Gäste aus dem Auslande gelegentlich der Olympiade gibt uns heute Veranlassung, einige Worte an Sie zu richten.
    Was sehen die Sportler und Gäste der ganzen Welt in Deutschland?
    Ein von Adolf Hitler gewünschtes Prachtstadion, die herrlichsten Sportanlagen, das olympische Dorf, Prachtbauten und Prachtstraßen in und um Berlin, kurz gesagt, eine Umgebung, die bei dem flüchtigen Beobachter den Eindruck erwecken muss, dass Deutschland das Land des Wohlstandes, das Land des inneren oder äusseren Friedens und der Freiheit sei.
    Das sollen die Sportler und Gäste der ganzen Welt hier nicht sehen?
    Sie sollen nicht das armselige Dasein der werktätigen Massen kennenlernen!
    Es gibt in Deutschland: Keine Pressefreiheit! Keine Organisationsfreiheit! Keine Meinungsfreiheit!
    Wer wagen sollte, sich offen gegen irgendeine Massnahme der faschistisch-reaktionären Hitler-Regierung auszusprechen, ist bedroht mit Konzentrationslager, Zuchthaus, Tod.
    Die deutschen Sportler dürfen nicht einmal ihre besten Kameraden zu ihren Führern wählen. Der Sport wird in Deutschland besonders zur Militarisierung der Jugend verwendet, und die Sportvereine stehen unter der Aufsicht der Regierung oder der des Reichssportführers.
    Gewiss hat die Arbeitslosigkeit abgenommen, aber das war nur möglich durch eine fieberhafte Aufrüstung, wie sie die Welt noch nie sah. Die Aufrüstung bedroht den Frieden Europas und der Welt ohne Zweifel, wenn auch Hitler bei jeder Gelegenheit seine Friedensliebe beteuert.
    Wir fordern alle ausländischen Sportler auf, gegen den kommenden Prozess gegen Ernst Thälmann zu protestieren!
    Die Deutsche Volksfront
    Karl faltete den Zettel und gab ihn Vera zurück. Sie steckte ihn in die Handtasche. Der Geschäftsführer setzte die Brille ab.
    »So tun Sie doch endlich was!« keifte die Frau.
    »Ja, aber was denn?« Der Geschäftsführer blickte unsicher in die Runde. Das Theater, das die Frau veranstaltete, hatte die Wirkung, daß alle, die die Olympia-Werbung bekommen hatten, jetzt die Rückseite lasen.
    »Sammeln Sie die Blätter ein und holen Sie endlich die Polizei! Ich will augenblicklich Anzeige erstatten! Bei uns in Braunschweig wäre der Kerl schon längst hinter Schloß und Riegel.«
    »Hast du den Anstecker gesehen, Karl? Diese Tunte ist in der Reichsfrauenschaft.«
    Der Geschäftsführer mußte die Polizei nicht rufen. Zwei Männer in Zivil, angelockt vom Gezeter der Frau, traten auf ihn zu und zeigten ihre

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