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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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sie sich anders benehmen. Endlich begriff León, woher die Stimmungsschwankungen seiner Tochter rühren mussten. Keinem im Haus war entgangen, wie unausgeglichen Ana Carolina in den letzten Monaten gewesen war, mal in sich gekehrt, mal aufbrausend, immer aber ganz anders, als man sie kannte. Was hatte dieser Schuft ihr angetan?
    Am liebsten wäre León auf der Stelle zu seiner Tochter gegangen und hätte sie direkt gefragt. Sie hatte ihm immer vertraut. Wenn sie sich überhaupt irgendjemandem öffnen würde, dann ihm. Aber wie sollte er ihr eine Beichte entlocken, ohne zugleich preiszugeben, dass er den Brief gelesen hatte?
    Und wie sollte er Vita gegenüber mit seinem Wissen umgehen? Durfte er es ihr verschweigen? Hatte sie als Mutter nicht auch das Recht, über die Nöte ihrer Tochter auf dem Laufenden zu sein? Grundsätzlich hatte er immer Freude daran, knifflige Probleme mit seiner Frau zu besprechen, denn Vita mit ihrer anderen Denkweise, die der seinen praktisch komplementär gegenüberstand, brachte ihn immer auf neue Ideen. Sie erkannte oft Dinge, die er nicht sah, oder kam auf Lösungen, die ihm niemals eingefallen wären. Ihr Gehirn funktionierte auf völlig andere Weise als seines, was er faszinierend und irritierend zugleich fand – und die der Ursprung ihrer täglich aufs Neue entstehenden Spannungen waren. Und trotz aller Missverständnisse, die unausweichlich bei ihren Gesprächen auftraten: Vita eröffnete ihm neue Perspektiven und gab ihm Denkanstöße, wie kein anderer Mensch es vermocht hätte.
    Er musste ihr diesen Brief zeigen.
    Aber er durfte ihn ihr nicht zeigen.
    Obwohl es noch zu früh dafür war, schenkte León sich einen Brandy ein und setzte sich zum Nachdenken in seinen Lesesessel. Ihm würde schon noch ein Ausweg aus dem Dilemma einfallen.

19
    A lice Pacheco Carvalho, geborene Pacheco, hatte sich ihre Ehe ein bisschen anders vorgestellt. Natürlich hatte António ihr nichts versprochen, was er nicht später auch zu halten bereit war. Genau genommen hatte er ihr gar nichts versprochen, sondern sie mit beinahe kränkender Direktheit wissen lassen, dass sein Jawort ein reiner Freundschaftsdienst gewesen sei. Trotzdem hatte sie sich von ihm ein wenig mehr Verständnis erhofft. Vielleicht sogar mehr Zuneigung. Seit dem Tag ihrer freudlosen Hochzeit hatte sie nichts mehr von ihm gehört. War es ein Fehler gewesen, ihn um diesen Gefallen zu bitten? Hatte sie damit eine alte Freundschaft aufs Spiel gesetzt? Während António früher gern mit ihr zusammen gewesen war und sie gemeinsam viele vergnügliche Abende verbracht hatten, stellte er sich seit dem Gang vor den Altar tot.
    Er brachte sie in eine unmögliche Situation. Ihre Eltern hatten sich mit der Urkunde, die der Pfarrer ihr ausgehändigt hatte, zufriedengegeben. Anfangs. Inzwischen wurden sie immer ungehaltener, weil der Bräutigam sich nie blicken ließ und weil die Ehe nicht einmal rechtskräftig war.
    »Er hat dich sitzenlassen«, schimpfte Alices Vater. »Sag mir, wo ich den Kerl finde, und ich schleife ihn an den Haaren zum Standesamt. Er hat eine Verantwortung für das Balg, das er dir angedreht hat. Wenigstens zahlen soll er dafür.«
    »Wie stellst du dir das vor, Kindchen? Hast du gedacht, mit einem Wisch von der Kirche wärst du fein raus?«, fragte ihre Mutter. »Die Leute sind Klatschmäuler. Sie werden sich fragen, warum es keine Hochzeitsfeier gab. Sie werden dich mit hämischem Gesicht auf deinen geliebten Gemahl ansprechen, wenn sie dich auf der Straße sehen. Und sie werden dein Kind später nach seinem Vater fragen. Dein Kind wird selber danach fragen. Was willst du ihm sagen? Dass du ein Phantom geheiratet hast? Und dass sein Vater António Carvalho heißt, ist ja wohl auch ein schlechter Witz. Er hätte sich genauso gut José da Silva oder João Campos nennen können. Ein Allerweltsname. Bist du sicher, dass der Kerl wirklich so heißt? Wahrscheinlich hat er dich nur an der Nase herumgeführt. Blöd genug bist du ja.« Die empörte Matrone warf einen vielsagenden Blick auf den Bauch ihrer Tochter und seufzte. »Ach, Alice, was machen wir nur mit dir? Wenn dein ›Ehemann‹ wenigstens
der
António Carvalho wäre, ja, dann könnten wir aus der Sache sicher etwas herausholen. Aber der ist es ja wohl kaum, oder?«
    »Doch!«, erwiderte Alice trotzig. »Genau der ist mein kirchlich angetrauter Gemahl. Na, zufrieden? Ändert das jetzt etwas an meiner Lage?« Da, nun hatte sie es gesagt. Sie bereute es sofort. Es war

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