Unter den Sternen von Rio
der Einzige, der in der Lage war zu lieben? Warum sprach er ihr diese Fähigkeit ab? Sie liebte ihn über alles, hatte er das immer noch nicht begriffen? Sie liebte ihre Kinder abgöttisch. Und ja, sie liebte auch ihre Zahlen. Schloss denn das eine das andere aus? Das Einzige, was ihr schwerfiel, war es, Gefühle zu zeigen. So hätte sie ihm auch jetzt niemals offenbart, dass seine Bemerkung sie getroffen hatte. »Wahrscheinlich hast du recht. Wie sonst hätte ich mir jemals einen Mann wie dich wählen können?«
»Vielleicht erschien es dir damals … profitabel. Ich kann mich daran nicht mehr erinnern«, konterte er.
»Unmöglich. Einer wie du wäre immer ein schlechtes Geschäft gewesen. Im Übrigen bin ich nicht ganz so berechnend, wie du glaubst. Warum sollte ich wohl Ana Carolinas Heirat mit Henrique befürworten? Er ist ein armer Schlucker.«
»›Ein armer Schlucker‹ ist leicht übertrieben, er ist nur nicht so steinreich wie du. Dafür hat er einen guten Namen, ist von adliger Herkunft und ist dir, wie jeder andere Mann auf diesem Planeten, treu ergeben. Und du kannst ihn als Kontrollinstanz für deine Tochter brauchen.«
»Was hast du dagegen? Es ist doch allemal besser, als wenn sie sich einen Bräutigam suchen würde, der nichts taugt und ihr nur dumme Flausen in den Kopf setzt. Oder als wenn sie, Gott bewahre, mit einem Taugenichts durchbrennen würde.« Jetzt, dachte Vitória, wäre der ideale Zeitpunkt, um mit León über den Rosenkavalier zu sprechen. Sie sollte ihr Wissen mit ihrem Mann teilen. Doch sie brachte es nicht über sich, ihm zu gestehen, dass sie sich der Hilfe eines Detektivs bedient hatte. Das wäre in Leóns Augen ein weiteres Indiz dafür, wie kalt und grausam sie war, wie besessen davon, alle zu beherrschen. Ihre eigentlichen Beweggründe, nämlich Kummer von ihrer Tochter fernzuhalten, würde er ihr doch nie abnehmen. Er würde sie noch mehr verachten, als er es ohnehin schon tat.
León sah Vitória durchdringend an. Von oben hörten sie das Gelächter der beiden jungen Frauen, die sich auf dem Balkon betranken. Warum auch nicht?, dachte León, lieber hier als in irgendeinem zwielichtigen Etablissement. Die ganze Unterhaltung mit Vita hatte er flüsternd geführt, damit die beiden da oben nichts davon hörten. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Die wirklich wichtigen Dinge waren ja nicht ausgesprochen worden. Er sah Vita an, dass sie etwas vor ihm verheimlichte. Was sollte diese Bemerkung mit dem Durchbrennen? Was wusste sie über Ana Carolinas heimliche Liebe? Warum sprach sie nicht mit ihm darüber? Und warum zum Teufel hielt er selber sein Wissen ebenfalls geheim?
Die Vorstellung, seiner Frau im Laufe der Zeit immer ähnlicher geworden zu sein, erschreckte ihn. Hatten ihre Raffinesse, ihre Tücke und ihre manchmal rücksichtslose Zielstrebigkeit auf ihn abgefärbt? Eine scheußliche Vorstellung. Sosehr er Vita für genau diese Eigenschaften auch liebte, so wenig wollte er ihr doch gleichen.
»Lass uns hineingehen, es ist frisch geworden«, schlug er vor. Er stand auf und reichte Vita seine Hand.
»Ich finde es sehr angenehm. Das wird an meiner Kaltblütigkeit und an meiner Gefühlskälte liegen«, erwiderte Vitória. Sie ignorierte seine Hand und blieb störrisch sitzen. Als León nach drinnen verschwand, ärgerte sie sich über sich selbst.
Warum nur musste sie immer das letzte Wort behalten?
24
B el verstand Augusto nicht. Sie hatte ihm vorgeschlagen, im Geschäft ihres Vaters nach Arbeit zu fragen. Sie war sich sicher, dass ihr Vater die Qualitäten des Jungen zu schätzen wüsste und dass Augusto ein Gewinn für die Firma wäre. Aber er hatte abgelehnt. »Ich will es nicht durch fremde Hilfe schaffen. Ich würde mich dann ewig so … zu Dank verpflichtet fühlen.«
»So ein Unsinn, Augusto!«, hatte Bel sich ereifert. »Jeder Mensch braucht gelegentlich mal Hilfe oder gute Kontakte. Was ist schon dabei? Die Arbeit musst du dann ja trotzdem gut machen.«
»Mir gefällt es beim Film. Warum willst du mir das madig machen?«
»Du machst meine Arbeit ja auch schlecht. Du behauptest, ich würde von Pereira ausgebeutet werden.«
»Das stimmt ja auch.«
»Tut es nicht. Zumindest an meinem Auftritt im ›Papagaio‹ verdient Pereira jetzt keinen Centavo mehr.«
»Nein?«
»Nein. Weil ich nämlich gegangen bin. Die Konkurrenz hat mich mit Kusshand genommen. Ich trete jetzt im ›Casa Blanca‹ auf und verdiene fast das Doppelte.«
»Das freut mich, Bel!
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