Unter den Sternen von Rio
tölpelhaft und geschwätzig.« Marie schaute Ana Carolina neugierig an.
»Ich glaube, ich war während eurer Abwesenheit nicht immer ganz … freundlich zum Personal. Vielleicht hatte sie Angst, dass ich aus der Haut fahre, wenn sie etwas falsch macht.«
»Da siehst du es mal wieder: Mit Strenge fährt man bei den Dienstboten am besten.« Sie schaute ihre Cousine feierlich an. »So, und nun: Auf uns!«
Sie stießen miteinander an und nippten an ihren Gläsern.
»Es ist schön hier oben«, meinte Ana Carolina nach den ersten winzigen Schlucken, die sie schweigend genossen hatten. »Ich wusste gar nicht, dass man von hier eine so wunderbare Aussicht hat. Mein Zimmer liegt ja zur anderen Seite hinaus. Und wenn ich im Freien sitze, dann tue ich das normalerweise unten, auf der Veranda.«
»Man hat nicht nur einen schönen Blick, sondern auch eine besondere Akustik«, sagte Marie in geheimnisvollem Ton.
»Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, dass man jedes Wort, das unten auf der Veranda gesprochen wird, hört, und zwar so laut, als säße man direkt unten mit am Tisch. Selbst wenn die Leute flüstern, kann man es hier ohne die geringste Anstrengung hören.«
»Das ist ja interessant«, meinte Ana Carolina und gab sich Mühe, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. Was hatte Marie alles belauscht? Hatte sie selber während Maries Anwesenheit irgendwelche Dinge besprochen, mit ihren Eltern oder mit Henrique, die nicht für fremde Ohren bestimmt waren? Am besten fragte sie sie direkt danach. »Und, was hast du Schönes zu hören bekommen?«
»Nichts Besonderes, wenn ich ehrlich sein soll. Aber ich hatte gehofft, dass sich das noch ändert. Wenn wir ruhig hier sitzen bleiben, bis
tia
Vitória und
tio
León sich draußen hinsetzen, dann erfahren wir vielleicht …«
»Ausgeschlossen!«, rief Ana Carolina. »Außerdem ist es sowieso langweilig – sie streiten sich schon seit Jahrzehnten über immer dieselben Sachen.«
»Caro, bete, dass wir nicht auch so werden wie unsere Eltern«, sagte Marie in düsterem Ton. »Versprich mir, dass du mich erschießt, wenn ich jemals beginne, meiner Mutter zu ähneln.«
Ana Carolina kicherte. »Ja, mache ich gern. Und umgekehrt tust du dasselbe, ja?«
»Nein.«
»Bitte?«
»Das geht nicht. Du ähnelst ihr jetzt schon viel mehr, als du ahnst«, sagte Marie und prustete los.
Ana Carolina fand diese Beobachtung alles andere als komisch, fiel jedoch in Maries Lachen mit ein. Sie füllte beide Gläser randvoll auf und trank ihres in wenigen Zügen leer. Vielleicht half der Alkohol ihr über diese Spitze hinweg, die tiefer in ihr Herz eingedrungen war, als Marie beabsichtigt haben konnte.
Nachdem sie die ganze Flasche geleert hatten, waren sie in einer albernen Laune, in der sie nur noch über gemeinsame Bekannte lästerten, über Modesünden herzogen oder sich über Männer und deren Eigenheiten die Mäuler zerrissen. Keine der beiden Cousinen bekam bei dem Gekicher mit, dass Maurice längst wach war und ihnen lauschte, obwohl er natürlich außer seinem eigenen Namen nichts verstand, genauso wenig wie sie bemerkten, dass Dona Vitória und Don León auf die Veranda getreten waren, um ihren Aperitif zu nehmen.
»Die Mädchen haben sich, wie’s scheint, wieder vertragen«, meinte León leise.
»Hast du etwas anderes erwartet? Es sind Kindereien, über die sie sich gestritten haben«, fand Vitória. »Hör sie dir doch an – sie sind ja auch noch Kinder.«
»Da bin ich anderer Meinung.«
»Als ich in dem Alter war, trug ich die Verantwortung für die ganze Familie.«
»Geh doch nicht immer von dir aus. Du warst nie Kind. Wahrscheinlich hast du schon mit vier Jahren alle herumkommandiert.«
»Natürlich habe ich das. Alle Vierjährigen haben das Kommando zu Hause«, entschärfte Vitória die giftige Bemerkung und gab sich heiterer, als sie sich fühlte.
»Nun, jedenfalls glaube ich, dass unsere Tochter sehr viel erwachsener ist, als du es ihr zugestehen möchtest.«
»Das hat doch mit möchten nichts zu tun. Ich habe Augen im Kopf, León, und obwohl es um meine Sehkraft nicht mehr zum Besten bestellt ist, sehe ich bestimmte Dinge außergewöhnlich klar.«
»Ja, meine liebe Vita, das tust du. Wenn es um Zahlen geht, um Geld, um geschäftliche Transaktionen – da bist du scharfsichtig wie keine andere. Aber nicht bei Gefühlsdingen. Mit dem Herzen bist du blind.«
Vitória war verletzt von dieser Einschätzung. Wieso glaubte León nur immer, er sei
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